Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_255.001 ple_255.030 ple_255.040 ple_255.001 ple_255.030 ple_255.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0269" n="255"/><lb n="ple_255.001"/> es nämlich aus der bewußten Absicht, Leiden auf sich zu nehmen, <lb n="ple_255.002"/> hervorgegangen ist, wie Johannas Schweigen im vierten Akt der Jungfrau <lb n="ple_255.003"/> von Orleans, wie der Entschluß, für den Glauben zu sterben in Calderons <lb n="ple_255.004"/> Standhaftem Prinzen, Corneilles Polyeucte und dem christlichen Trauerspiel <lb n="ple_255.005"/> überhaupt. Ob freilich ein solcher Entschluß hinreicht, den Mittelpunkt <lb n="ple_255.006"/> einer dramatischen Handlung zu bilden, und ob die Märtyrertragödie somit <lb n="ple_255.007"/> gerechtfertigt ist, wird man billig bezweifeln. Im allgemeinen wird es <lb n="ple_255.008"/> auf der tragischen Bühne so zugehen, daß der Wille und das Tun des <lb n="ple_255.009"/> Helden sein Leiden herbeiführt: daß, mit Schiller zu reden, das Erhabene <lb n="ple_255.010"/> der Handlung die dramatische Entwicklung beherrscht. Ist nun aber Leiden <lb n="ple_255.011"/> und Tod durch die Willenshandlung des Helden unabwendbar geworden <lb n="ple_255.012"/> und bricht die Katastrophe herein, dann ist es natürlich, wenn auch nicht <lb n="ple_255.013"/> notwendig, daß das Tragische der Handlung in das der Fassung übergeht <lb n="ple_255.014"/> und die Seelengröße, die sich vorher im Handeln und Kämpfen gezeigt <lb n="ple_255.015"/> hat, nun im Dulden hervortritt. Daher pflegt die Stimmung des erhabenen <lb n="ple_255.016"/> Duldens den letzten Teil der Tragödie zu beherrschen und das Ende zu <lb n="ple_255.017"/> verklären. Vor allem Schiller hat es verstanden, diesen Wandel vom Tun <lb n="ple_255.018"/> zum Leiden ergreifend darzustellen, wie er denn überhaupt der Meister der <lb n="ple_255.019"/> tragischen Katastrophe ist und wir Modernen ihm mit Recht, wie die Alten <lb n="ple_255.020"/> dem Euripides, nachrühmen können, daß er der tragischste unter den tragischen <lb n="ple_255.021"/> Dichtern ist. In den letzten Worten der Gräfin Terzky z. B. kommt <lb n="ple_255.022"/> das Erhabene der Fassung unnachahmlich schön zum Ausdruck: <lb n="ple_255.023"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Sie denken würdiger von mir, als daß Sie glaubten,</l><lb n="ple_255.024"/><l>Ich überlebte meines Hauses Fall.</l><lb n="ple_255.025"/><l>Wir fühlten uns nicht zu gering, die Hand</l><lb n="ple_255.026"/><l>Nach einer Königskrone zu erheben —</l><lb n="ple_255.027"/><l>Es sollte nicht sein — doch wir <hi rendition="#g">denken</hi> königlich</l><lb n="ple_255.028"/><l>Und achten einen freien, mut'gen Tod</l><lb n="ple_255.029"/><l>Anständiger als ein entehrtes Leben.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_255.030"/> Wallensteins Nachruf an Max Piccolomini oder die letzten Auftritte der <lb n="ple_255.031"/> Braut von Messina haben an Tiefe und Macht der tragischen Stimmung <lb n="ple_255.032"/> nicht ihresgleichen, und wenn auch der letzte Akt der Maria Stuart durch <lb n="ple_255.033"/> den Kontrast, den die jammernde Umgebung zu der erhabenen Ruhe <lb n="ple_255.034"/> der Heldin machen soll, sehr wider den Willen des Dichters etwas weichlich <lb n="ple_255.035"/> geraten ist, so tritt doch in den Eingangs- und Schlußworten Marias <lb n="ple_255.036"/> die echt tragische Grundstimmung voll und ergreifend hervor. Auch der <lb n="ple_255.037"/> Ausgang von Goethes Egmont übrigens und nicht minder der kleine <lb n="ple_255.038"/> Monolog des Prinzen von Homburg „Nun o Unsterblichkeit, bist du ganz <lb n="ple_255.039"/> mein“, schließen sich würdig an. —</p> <p><lb n="ple_255.040"/> Ist der Tod der Gipfelpunkt des Leidens oder der Erlöser, der vom <lb n="ple_255.041"/> Leiden befreit? Offenbar kann beides der Fall sein, noch richtiger vielleicht: <lb n="ple_255.042"/> es muß in jeder echt tragischen Katastrophe etwas von beiden <lb n="ple_255.043"/> zusammenkommen.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [255/0269]
ple_255.001
es nämlich aus der bewußten Absicht, Leiden auf sich zu nehmen, ple_255.002
hervorgegangen ist, wie Johannas Schweigen im vierten Akt der Jungfrau ple_255.003
von Orleans, wie der Entschluß, für den Glauben zu sterben in Calderons ple_255.004
Standhaftem Prinzen, Corneilles Polyeucte und dem christlichen Trauerspiel ple_255.005
überhaupt. Ob freilich ein solcher Entschluß hinreicht, den Mittelpunkt ple_255.006
einer dramatischen Handlung zu bilden, und ob die Märtyrertragödie somit ple_255.007
gerechtfertigt ist, wird man billig bezweifeln. Im allgemeinen wird es ple_255.008
auf der tragischen Bühne so zugehen, daß der Wille und das Tun des ple_255.009
Helden sein Leiden herbeiführt: daß, mit Schiller zu reden, das Erhabene ple_255.010
der Handlung die dramatische Entwicklung beherrscht. Ist nun aber Leiden ple_255.011
und Tod durch die Willenshandlung des Helden unabwendbar geworden ple_255.012
und bricht die Katastrophe herein, dann ist es natürlich, wenn auch nicht ple_255.013
notwendig, daß das Tragische der Handlung in das der Fassung übergeht ple_255.014
und die Seelengröße, die sich vorher im Handeln und Kämpfen gezeigt ple_255.015
hat, nun im Dulden hervortritt. Daher pflegt die Stimmung des erhabenen ple_255.016
Duldens den letzten Teil der Tragödie zu beherrschen und das Ende zu ple_255.017
verklären. Vor allem Schiller hat es verstanden, diesen Wandel vom Tun ple_255.018
zum Leiden ergreifend darzustellen, wie er denn überhaupt der Meister der ple_255.019
tragischen Katastrophe ist und wir Modernen ihm mit Recht, wie die Alten ple_255.020
dem Euripides, nachrühmen können, daß er der tragischste unter den tragischen ple_255.021
Dichtern ist. In den letzten Worten der Gräfin Terzky z. B. kommt ple_255.022
das Erhabene der Fassung unnachahmlich schön zum Ausdruck: ple_255.023
Sie denken würdiger von mir, als daß Sie glaubten, ple_255.024
Ich überlebte meines Hauses Fall. ple_255.025
Wir fühlten uns nicht zu gering, die Hand ple_255.026
Nach einer Königskrone zu erheben — ple_255.027
Es sollte nicht sein — doch wir denken königlich ple_255.028
Und achten einen freien, mut'gen Tod ple_255.029
Anständiger als ein entehrtes Leben.
ple_255.030
Wallensteins Nachruf an Max Piccolomini oder die letzten Auftritte der ple_255.031
Braut von Messina haben an Tiefe und Macht der tragischen Stimmung ple_255.032
nicht ihresgleichen, und wenn auch der letzte Akt der Maria Stuart durch ple_255.033
den Kontrast, den die jammernde Umgebung zu der erhabenen Ruhe ple_255.034
der Heldin machen soll, sehr wider den Willen des Dichters etwas weichlich ple_255.035
geraten ist, so tritt doch in den Eingangs- und Schlußworten Marias ple_255.036
die echt tragische Grundstimmung voll und ergreifend hervor. Auch der ple_255.037
Ausgang von Goethes Egmont übrigens und nicht minder der kleine ple_255.038
Monolog des Prinzen von Homburg „Nun o Unsterblichkeit, bist du ganz ple_255.039
mein“, schließen sich würdig an. —
ple_255.040
Ist der Tod der Gipfelpunkt des Leidens oder der Erlöser, der vom ple_255.041
Leiden befreit? Offenbar kann beides der Fall sein, noch richtiger vielleicht: ple_255.042
es muß in jeder echt tragischen Katastrophe etwas von beiden ple_255.043
zusammenkommen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |