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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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vereinzelt und zufällig. Das ist in nicht wenigen modernen Dramen der ple_254.002
Fall, besonders da, wo die Entwicklung auf pathologischen Zuständen fußt ple_254.003
oder solche zum Austrag bringt, so z. B. in Halbes Jugend, auch in ple_254.004
einigen Episoden Ibsenscher Dichtungen, wiewohl man diesen Vorwurf dem ple_254.005
nordischen Dramatiker oft in zu weit gehender Weise gemacht hat. Aber ple_254.006
auch umgekehrt kann die psychologische Notwendigkeit niemals durch die ple_254.007
bloß moralische ersetzt werden, sonst wird die Entwicklung unglaubhaft und ple_254.008
daher unbefriedigend. Im Don Carlos wird Posas Entschluß, für seinen ple_254.009
Freund und die Sache der Freiheit zu sterben, durch die Idee des Dramas ple_254.010
gefordert, aber weder durch die Lage, in der sich der Held befindet, noch ple_254.011
durch seinen Charakter ausreichend motiviert. Ein Beispiel völlig anderer ple_254.012
Art, aber doch eine ähnliche Schwäche der Dichtung bezeugend, ist der ple_254.013
Schluß von Ibsens Nora: die Idee des Stückes, die Konsequenz des tragischen ple_254.014
Gegensatzes erfordert, daß sich die Heldin von dem Gatten trennt, ple_254.015
der ihrer nicht würdig ist; aber der Dichter hat nicht vermocht, es zwingend ple_254.016
glaubhaft zu machen, daß diese Frau wirklich Kraft und Härte genug hat, ple_254.017
um ihren Mann und vor allem ihre Kinder zu verlassen. Nur wo beide, ple_254.018
die Idee und die psychologische Entwicklung, zusammenwirken, da entsteht ple_254.019
die tragische Notwendigkeit im höchsten Sinne des Worts, das Gefühl, ple_254.020
daß das, was wir da vor uns sehen, wie ein Stück Natur, gar nicht anders ple_254.021
sein und geschehen könne, jener Eindruck des Zwingenden, der, wie wir ple_254.022
wissen, das entscheidende Kennzeichen künstlerischen Wertes überhaupt ist.

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Was nun durch die tragische Entwicklung herbeigeführt wird, ist ple_254.024
immer nur eins: der Held kämpft, leidet und stirbt für seine Ziele. Dieses ple_254.025
ist offenbar auf zwei Wegen möglich. Er wählt (oder wagt doch) Leiden ple_254.026
und Tod, wiewohl ihm die Möglichkeit offen stünde, beides zu vermeiden, ple_254.027
wenn er seine Ideale preisgäbe, -- oder er erduldet nur passiv das Unabänderliche, ple_254.028
überwindet es aber innerlich dadurch, daß er ungebrochen ple_254.029
und ungebeugt bleibt. Man könnte sagen: er behauptet seine Persönlichkeit ple_254.030
entweder durch Leiden oder im Leiden. Auf diesen wesentlichen ple_254.031
Unterschied hat Schiller in der Abhandlung über das Pathetische aufmerksam ple_254.032
gemacht; er unterscheidet das Erhabene der Handlung von dem ple_254.033
der Fassung. Mit Recht, nur darf man nicht vergessen, daß der eigentliche ple_254.034
Gegenstand der tragischen Dichtung, vornehmlich aber der dramatischen, ple_254.035
das Tragische der Handlung ist und dem der Fassung im allgemeinen ple_254.036
nur eine sekundäre Bedeutung zukommt. In vielen, ja den ple_254.037
meisten antiken Tragödien fehlt dieses letztere ganz, nicht minder in ple_254.038
Shakespeares Richard III. Das Umgekehrte jedoch ist bei großen Dramatikern ple_254.039
so gut wie niemals der Fall. Nur ein Tragiker zweiten Ranges, ple_254.040
wie Andreas Gryphius, konnte seiner Gemütsverfassung und seinen Erlebnissen ple_254.041
gemäß eine Vorliebe dafür haben, unverschuldetes, aber mit ple_254.042
Würde getragenes Leiden darzustellen. Selbstverständlich kann auch ple_254.043
das bloße Unterlassen eines Tuns eine erhabene Handlung sein, sobald

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vereinzelt und zufällig. Das ist in nicht wenigen modernen Dramen der ple_254.002
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immer nur eins: der Held kämpft, leidet und stirbt für seine Ziele. Dieses ple_254.025
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/268>, abgerufen am 24.11.2024.