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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte ple_223.002
Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang ple_223.003
beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand ple_223.004
nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche ple_223.005
Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht, ple_223.006
erweckt das Behagen des Zuschauers, und die selige Verklärung, ple_223.007
die auf dem Gesicht eines Bezechten erscheint, erregt nicht weniger Heiterkeit ple_223.008
als andrerseits seine täppische Unbeholfenheit; aber der psychologische ple_223.009
Ursprung beider Empfindungen ist offenbar ganz verschieden. In diesem ple_223.010
Falle, wie in dem der Prügelszene, beruht die komische Wirkung auf einer ple_223.011
Verschmelzung aus sympathischen Lustgefühlen und schadenfroher Überlegenheit. ple_223.012
Beide verstärken einander wechselseitig. Und dieser Umstand ple_223.013
macht es erklärlich, daß gerade Prügelei und Trunkenheit auf der komischen ple_223.014
Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich ple_223.015
oft wiederkehren.

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Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge ple_223.017
der Situationskomik vor uns haben, wie dort den Keim zum Wortspiel ple_223.018
und zum Gedankenwitz. Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht ple_223.019
darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und ple_223.020
unsere Schadenfreude wachruft. Dann aber muß sie sich, soll die erheiternde ple_223.021
Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder ple_223.022
durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch ple_223.023
jene sympathischen Lustgefühle erwecken, die der Anblick jeder ple_223.024
Kraft wachruft. Auch hier wird die Wirkung durch Überraschung nicht ple_223.025
erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit ple_223.026
Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt ple_223.027
wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück ple_223.028
die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der ple_223.029
Komik bildet). So zeigt auch die Situationskomik des hochentwickelten ple_223.030
Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen ple_223.031
gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller ple_223.032
Nachbildung "Scherz, List und Rache" tritt das deutlich hervor; besonders ple_223.033
aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou ple_223.034
und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben.

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Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos ple_223.036
in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten ple_223.037
Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine ple_223.038
gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen.1)

1) ple_223.039
Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen ple_223.040
müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ple_223.041
ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine ple_223.042
zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen ple_223.043
Faktor der Wirkung auf.

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gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte ple_223.002
Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang ple_223.003
beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand ple_223.004
nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche ple_223.005
Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht, ple_223.006
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Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich ple_223.015
oft wiederkehren.

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Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge ple_223.017
der Situationskomik vor uns haben, wie dort den Keim zum Wortspiel ple_223.018
und zum Gedankenwitz. Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht ple_223.019
darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und ple_223.020
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Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder ple_223.022
durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch ple_223.023
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erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit ple_223.026
Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt ple_223.027
wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück ple_223.028
die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der ple_223.029
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Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen ple_223.031
gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller ple_223.032
Nachbildung „Scherz, List und Rache“ tritt das deutlich hervor; besonders ple_223.033
aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou ple_223.034
und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben.

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Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos ple_223.036
in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten ple_223.037
Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine ple_223.038
gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen.1)

1) ple_223.039
Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen ple_223.040
müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ple_223.041
ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine ple_223.042
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[223/0237] ple_223.001 gegenüber regt sich die Schadenfreude, die mehr oder weniger unbewußte ple_223.002 Empfindung der eigenen Überlegenheit. Ähnlich ist der seelische Vorgang ple_223.003 beim Anblick eines Trunkenen, zumal auf der Bühne, wenn der Zustand ple_223.004 nicht zu plump und abstoßend dargestellt wird. Der feucht-fröhliche ple_223.005 Übermut etwa, wie er die Trinkszenen in Shakespeares Heinrich IV. beherrscht, ple_223.006 erweckt das Behagen des Zuschauers, und die selige Verklärung, ple_223.007 die auf dem Gesicht eines Bezechten erscheint, erregt nicht weniger Heiterkeit ple_223.008 als andrerseits seine täppische Unbeholfenheit; aber der psychologische ple_223.009 Ursprung beider Empfindungen ist offenbar ganz verschieden. In diesem ple_223.010 Falle, wie in dem der Prügelszene, beruht die komische Wirkung auf einer ple_223.011 Verschmelzung aus sympathischen Lustgefühlen und schadenfroher Überlegenheit. ple_223.012 Beide verstärken einander wechselseitig. Und dieser Umstand ple_223.013 macht es erklärlich, daß gerade Prügelei und Trunkenheit auf der komischen ple_223.014 Bühne ihrer heiteren Wirkung sicher sind, weshalb sie auch so unsäglich ple_223.015 oft wiederkehren. ple_223.016 Es ist vielleicht nicht zu kühn vermutet, daß wir hier die Anfänge ple_223.017 der Situationskomik vor uns haben, wie dort den Keim zum Wortspiel ple_223.018 und zum Gedankenwitz. Ein wesentlicher Teil aller Situationskomik beruht ple_223.019 darauf, daß eine der handelnden Personen in Verlegenheit kommt und ple_223.020 unsere Schadenfreude wachruft. Dann aber muß sie sich, soll die erheiternde ple_223.021 Wirkung andauern, entweder durch die Gunst des Glücks oder ple_223.022 durch überlegene Geisteskraft wieder aus der Verlegenheit ziehen und dadurch ple_223.023 jene sympathischen Lustgefühle erwecken, die der Anblick jeder ple_223.024 Kraft wachruft. Auch hier wird die Wirkung durch Überraschung nicht ple_223.025 erst hervorgebracht (wir können z. B. in einem Lustspiel wie Figaros Hochzeit ple_223.026 Intrigue und Gegenplan vorher kennen, ohne daß die Wirkung geschädigt ple_223.027 wird), wohl aber gesteigert (wie etwa in dem genannten Stück ple_223.028 die überraschende Entdeckung der Eltern des Helden den Höhepunkt der ple_223.029 Komik bildet). So zeigt auch die Situationskomik des hochentwickelten ple_223.030 Lustspiels noch dieselben Faktoren, deren primitive Gestalt wir oben kennen ple_223.031 gelernt haben. In der italienischen Maskenkomödie sowie in Goethes reizvoller ple_223.032 Nachbildung „Scherz, List und Rache“ tritt das deutlich hervor; besonders ple_223.033 aber sind es die Franzosen, die sich von Beaumarchais bis Sardou ple_223.034 und weiter als die Meister dieser Art von Wirkungen erwiesen haben. ple_223.035 Es wäre nun freilich zu viel behauptet, daß alle Situationskomik restlos ple_223.036 in diesem einfachen Schema aufginge. Kein Zweifel, daß in den verfeinerten ple_223.037 Arten des Lustspiels noch andere Elemente hinzutreten, um eine ple_223.038 gesteigerte und bedeutsamere Wirkung hervorzubringen. 1) 1) ple_223.039 Hier ist es, wo wir auf die Theorie von Kant und Lipps (S. 216) zurückgreifen ple_223.040 müssen. Diese Theorie umfaßt zwar nicht, wie beide Denker angenommen haben, das ple_223.041 ganze Gebiet des Komischen, wohl aber gibt sie für eine Reihe von Erscheinungen eine ple_223.042 zureichende Erklärung; für eine Anzahl anderer weist sie wenigstens einen wesentlichen ple_223.043 Faktor der Wirkung auf.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/237>, abgerufen am 22.11.2024.