Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_222.001 ple_222.025 1) ple_222.041
Das haben, wie wir oben S. 216 sahen, schon Hobbes und in unserer Zeit Groos ple_222.042 als eine Quelle der Komik aufgedeckt, aber freilich mit Unrecht für die Grundlage aller ple_222.043 erheiternden Wirkung angesehen. ple_222.001 ple_222.025 1) ple_222.041
Das haben, wie wir oben S. 216 sahen, schon Hobbes und in unserer Zeit Groos ple_222.042 als eine Quelle der Komik aufgedeckt, aber freilich mit Unrecht für die Grundlage aller ple_222.043 erheiternden Wirkung angesehen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0236" n="222"/><lb n="ple_222.001"/> geistige Beschränktheit und Einfalt. So hielten sich die Fürsten des Mittelalters <lb n="ple_222.002"/> Bucklige und Zwerge als Hofnarren, so erregt noch heute der <lb n="ple_222.003"/> Clown im Zirkus (man denke an die Spezialität des „dummen August“) <lb n="ple_222.004"/> immer erneutes Gelächter. Woher kommt das? An sich muß, so sollte <lb n="ple_222.005"/> man meinen, der Anblick von etwas Häßlichem und Abstoßendem eher <lb n="ple_222.006"/> Unlust als Lust erwecken, und auf Menschen einer höheren Kulturstufe <lb n="ple_222.007"/> wirkt er ja auch so. Das erheiternde Moment kann hier in der Tat schwerlich <lb n="ple_222.008"/> in etwas anderem liegen, als in einem naiven Gefühl der Überlegenheit.<note xml:id="ple_222_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_222.041"/> Das haben, wie wir oben S. 216 sahen, schon Hobbes und in unserer Zeit Groos <lb n="ple_222.042"/> als eine Quelle der Komik aufgedeckt, aber freilich mit Unrecht für die Grundlage aller <lb n="ple_222.043"/> erheiternden Wirkung angesehen.</note> <lb n="ple_222.009"/> Man beobachte Kinder, die etwa auf der Straße spielen: was erregt <lb n="ple_222.010"/> ihre Heiterkeit? Zunächst lassen sie eine natürliche Spottlust aneinander <lb n="ple_222.011"/> aus; jedes unter ihnen, das etwas Abnormes in der Erscheinung hat, das <lb n="ple_222.012"/> ungewöhnlich oder schlechter als die anderen angezogen ist, das hinkt <lb n="ple_222.013"/> oder stottert, wird verlacht oder verhöhnt. Plötzlich ist das alles vergessen: <lb n="ple_222.014"/> es erscheint ein Betrunkener, der über die Straße schwankt, sofort ist die <lb n="ple_222.015"/> ganze Schar lachend und johlend hinter ihm drein. Er droht und poltert, <lb n="ple_222.016"/> das erhöht nur die allgemeine Freude, denn sie wissen: er steht nicht <lb n="ple_222.017"/> mehr fest auf den Füßen und vermag sich seiner Peiniger nicht zu erwehren. <lb n="ple_222.018"/> Daß diese Heiterkeit Schadenfreude ist, daß sie aus dem mehr <lb n="ple_222.019"/> oder weniger deutlichen Bewußtsein hervorgeht: wir sind die Stärkeren, <lb n="ple_222.020"/> die Gesünderen, wird kaum ein Zuschauer bezweifeln. Und nicht anders <lb n="ple_222.021"/> empfindet ein naives Publikum, wenn es den Betrunkenen auf der Bühne <lb n="ple_222.022"/> oder den täppischen Clown, der vom Pferde fällt, im Zirkus sieht. Die <lb n="ple_222.023"/> primitiven Spottlieder von Naturvölkern, von denen Grosse (Die Anfänge <lb n="ple_222.024"/> der Kunst, S. 228) Beispiele gibt, zeigen das in einfachster Form.</p> <p><lb n="ple_222.025"/> Dies Gefühl der Überlegenheit, Schadenfreude oder Spottsucht kann <lb n="ple_222.026"/> genau so wie die oben geschilderten lusterregenden Vorstellungen zum <lb n="ple_222.027"/> Untergrund oder zum Inhalt des Wort- oder Gedankenspiels werden. Dann <lb n="ple_222.028"/> entsteht das <hi rendition="#g">Pasquill,</hi> der beißende Witz, der in unzähligen gröberen <lb n="ple_222.029"/> oder feineren Formen das Leben und die Weltliteratur durchzieht. Andrerseits <lb n="ple_222.030"/> aber kann man schon auf der primitiven Stufe eine eigentümliche <lb n="ple_222.031"/> Mischung beider Arten von komischen Wirkungen beobachten, die durch <lb n="ple_222.032"/> bestimmte Eindrücke regelmäßig hervorgebracht wird. So verhält sichs <lb n="ple_222.033"/> z. B. beim Anblick von Prügelszenen. Schon bei wirklichen Schlägereien <lb n="ple_222.034"/> ist die Sympathie naiver Zuschauer, wie man täglich beobachten kann, <lb n="ple_222.035"/> zumeist auf Seiten des Siegenden, so lange wenigstens, als er sie nicht <lb n="ple_222.036"/> durch Brutalität gegen den Besiegten verscherzt. Der Unterliegende wird <lb n="ple_222.037"/> verlacht, und auf der Bühne gar ist der Geprügelte immer die komische <lb n="ple_222.038"/> Figur. Hier kommt offenbar beides zusammen: der Eindruck der Kraft, <lb n="ple_222.039"/> die der Sieger entwickelt, tritt in eine Reihe mit jenen Vorstellungen animalischer <lb n="ple_222.040"/> Lustgefühle und erzeugt gleiche Lust wie sie; dem Besiegten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [222/0236]
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geistige Beschränktheit und Einfalt. So hielten sich die Fürsten des Mittelalters ple_222.002
Bucklige und Zwerge als Hofnarren, so erregt noch heute der ple_222.003
Clown im Zirkus (man denke an die Spezialität des „dummen August“) ple_222.004
immer erneutes Gelächter. Woher kommt das? An sich muß, so sollte ple_222.005
man meinen, der Anblick von etwas Häßlichem und Abstoßendem eher ple_222.006
Unlust als Lust erwecken, und auf Menschen einer höheren Kulturstufe ple_222.007
wirkt er ja auch so. Das erheiternde Moment kann hier in der Tat schwerlich ple_222.008
in etwas anderem liegen, als in einem naiven Gefühl der Überlegenheit. 1) ple_222.009
Man beobachte Kinder, die etwa auf der Straße spielen: was erregt ple_222.010
ihre Heiterkeit? Zunächst lassen sie eine natürliche Spottlust aneinander ple_222.011
aus; jedes unter ihnen, das etwas Abnormes in der Erscheinung hat, das ple_222.012
ungewöhnlich oder schlechter als die anderen angezogen ist, das hinkt ple_222.013
oder stottert, wird verlacht oder verhöhnt. Plötzlich ist das alles vergessen: ple_222.014
es erscheint ein Betrunkener, der über die Straße schwankt, sofort ist die ple_222.015
ganze Schar lachend und johlend hinter ihm drein. Er droht und poltert, ple_222.016
das erhöht nur die allgemeine Freude, denn sie wissen: er steht nicht ple_222.017
mehr fest auf den Füßen und vermag sich seiner Peiniger nicht zu erwehren. ple_222.018
Daß diese Heiterkeit Schadenfreude ist, daß sie aus dem mehr ple_222.019
oder weniger deutlichen Bewußtsein hervorgeht: wir sind die Stärkeren, ple_222.020
die Gesünderen, wird kaum ein Zuschauer bezweifeln. Und nicht anders ple_222.021
empfindet ein naives Publikum, wenn es den Betrunkenen auf der Bühne ple_222.022
oder den täppischen Clown, der vom Pferde fällt, im Zirkus sieht. Die ple_222.023
primitiven Spottlieder von Naturvölkern, von denen Grosse (Die Anfänge ple_222.024
der Kunst, S. 228) Beispiele gibt, zeigen das in einfachster Form.
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Dies Gefühl der Überlegenheit, Schadenfreude oder Spottsucht kann ple_222.026
genau so wie die oben geschilderten lusterregenden Vorstellungen zum ple_222.027
Untergrund oder zum Inhalt des Wort- oder Gedankenspiels werden. Dann ple_222.028
entsteht das Pasquill, der beißende Witz, der in unzähligen gröberen ple_222.029
oder feineren Formen das Leben und die Weltliteratur durchzieht. Andrerseits ple_222.030
aber kann man schon auf der primitiven Stufe eine eigentümliche ple_222.031
Mischung beider Arten von komischen Wirkungen beobachten, die durch ple_222.032
bestimmte Eindrücke regelmäßig hervorgebracht wird. So verhält sichs ple_222.033
z. B. beim Anblick von Prügelszenen. Schon bei wirklichen Schlägereien ple_222.034
ist die Sympathie naiver Zuschauer, wie man täglich beobachten kann, ple_222.035
zumeist auf Seiten des Siegenden, so lange wenigstens, als er sie nicht ple_222.036
durch Brutalität gegen den Besiegten verscherzt. Der Unterliegende wird ple_222.037
verlacht, und auf der Bühne gar ist der Geprügelte immer die komische ple_222.038
Figur. Hier kommt offenbar beides zusammen: der Eindruck der Kraft, ple_222.039
die der Sieger entwickelt, tritt in eine Reihe mit jenen Vorstellungen animalischer ple_222.040
Lustgefühle und erzeugt gleiche Lust wie sie; dem Besiegten
1) ple_222.041
Das haben, wie wir oben S. 216 sahen, schon Hobbes und in unserer Zeit Groos ple_222.042
als eine Quelle der Komik aufgedeckt, aber freilich mit Unrecht für die Grundlage aller ple_222.043
erheiternden Wirkung angesehen.
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