Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_207.001 ple_207.028 ple_207.042 ple_207.001 ple_207.028 ple_207.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0221" n="207"/><lb n="ple_207.001"/> seinen Romanen künstlerische Formen und Gestalten, welche den Begriff <lb n="ple_207.002"/> des Symbolischen verwirklichen. Dagegen neigt er in seinen späteren <lb n="ple_207.003"/> Dramen, schon in der natürlichen Tochter und noch mehr im zweiten Teil <lb n="ple_207.004"/> des Faust, bedenklich zum einseitig Typischen; in Pandora und Helena <lb n="ple_207.005"/> führt diese Neigung, wie eben bemerkt, über die Grenze hinaus, jenseits <lb n="ple_207.006"/> welcher die Allegorie beginnt. Schillers Entwicklungsgang ist schon <lb n="ple_207.007"/> S. 194 in den Grundzügen angedeutet: im Wallenstein ist es ihm am vollkommensten <lb n="ple_207.008"/> gelungen, den Ausgleich zwischen individuellem Leben und <lb n="ple_207.009"/> symbolischer Bedeutsamkeit zu schaffen. Auch er nähert sich dann <lb n="ple_207.010"/> Schritt für Schritt immer mehr der einseitig typisierenden Methode. Schon <lb n="ple_207.011"/> in der Maria Stuart tritt das Individuelle gegenüber der Charakterzeichnung <lb n="ple_207.012"/> im Wallenstein stark zurück. In der Jungfrau von Orleans unterscheiden sich <lb n="ple_207.013"/> z. B. die einzelnen Ritter, seien es Franzosen oder Engländer, so gut wie <lb n="ple_207.014"/> gar nicht voneinander; nicht einmal für Lionel hat der Dichter einen persönlichen <lb n="ple_207.015"/> Zug gefunden, der die Leidenschaft seiner Heldin erklärlich machte. <lb n="ple_207.016"/> In der Braut von Messina ist zwar das Geschlecht, dessen Untergang die <lb n="ple_207.017"/> Tragödie behandelt, durch bestimmte Eigenschaften entschieden charakterisiert, <lb n="ple_207.018"/> aber die Individualität der einzelnen Glieder desselben erscheint <lb n="ple_207.019"/> doch wieder sehr beträchtlich ins Typische gemildert und damit abgeschwächt, <lb n="ple_207.020"/> — man betrachte z. B. die Gestalt der Beatrice. Im Wilhelm <lb n="ple_207.021"/> Tell ist dem handelnden Volke ein Gesamtcharakter deutlich aufgeprägt, <lb n="ple_207.022"/> allein die einzelnen unterscheiden sich wiederum im wesentlichen nur nach <lb n="ple_207.023"/> Alter, Stand und höchstens nach Temperament; — der Titelheld allein ist, <lb n="ple_207.024"/> wenn auch in großen Zügen, individuell gesehen. Im Demetrius dagegen <lb n="ple_207.025"/> kehrte der Dichter in allem Wesentlichen zur Methode des Wallenstein <lb n="ple_207.026"/> zurück und erreichte nach längerem, für die kurze Dauer seines Lebens <lb n="ple_207.027"/> allzu langem Umweg wieder die volle Höhe dichterischer Gestaltungskraft.</p> <p><lb n="ple_207.028"/> Mit der Methode der Charakteristik hängt die Art der Milieuschilderung <lb n="ple_207.029"/> unmittelbar und notwendig zusammen. Auch diese wird der idealistische <lb n="ple_207.030"/> Dichter nur in allgemeinen und typischen Zügen behandeln, ja, <lb n="ple_207.031"/> er wird sie oft genug nur andeuten, wie Goethe im Tasso, oder er wird <lb n="ple_207.032"/> sogar gänzlich von ihr absehen, wie die klassische französische Dichtung, <lb n="ple_207.033"/> Molière eingeschlossen, getan hat. Für den naturalistischen Dichter ist <lb n="ple_207.034"/> dagegen die anschauliche Charakteristik der Verhältnisse und Umgebung, <lb n="ple_207.035"/> aus der seine Menschen hervorgehen, unentbehrlich, denn diese letzteren <lb n="ple_207.036"/> sind erst durch sie verständlich. Ja, er wird dazu neigen, seine Menschen <lb n="ple_207.037"/> nur als Teilerscheinungen eines charakteristischen Milieus aufzufassen und <lb n="ple_207.038"/> dadurch dem einzelnen ein Interesse zu entziehen, das er freilich dem <lb n="ple_207.039"/> Ganzen dafür wieder zuwendet. So in einem großen Teil des Zolaschen <lb n="ple_207.040"/> Romanzyklus Rougon Macquart, so besonders in Gerhart Hauptmanns <lb n="ple_207.041"/> Webern und seinem Florian Geyer.</p> <p><lb n="ple_207.042"/> Das Typische ist zwar anschaulich, aber es verkörpert eine allgemeine <lb n="ple_207.043"/> Idee. Daher ist man geneigt, in dem Dichter idealer Richtung </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0221]
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seinen Romanen künstlerische Formen und Gestalten, welche den Begriff ple_207.002
des Symbolischen verwirklichen. Dagegen neigt er in seinen späteren ple_207.003
Dramen, schon in der natürlichen Tochter und noch mehr im zweiten Teil ple_207.004
des Faust, bedenklich zum einseitig Typischen; in Pandora und Helena ple_207.005
führt diese Neigung, wie eben bemerkt, über die Grenze hinaus, jenseits ple_207.006
welcher die Allegorie beginnt. Schillers Entwicklungsgang ist schon ple_207.007
S. 194 in den Grundzügen angedeutet: im Wallenstein ist es ihm am vollkommensten ple_207.008
gelungen, den Ausgleich zwischen individuellem Leben und ple_207.009
symbolischer Bedeutsamkeit zu schaffen. Auch er nähert sich dann ple_207.010
Schritt für Schritt immer mehr der einseitig typisierenden Methode. Schon ple_207.011
in der Maria Stuart tritt das Individuelle gegenüber der Charakterzeichnung ple_207.012
im Wallenstein stark zurück. In der Jungfrau von Orleans unterscheiden sich ple_207.013
z. B. die einzelnen Ritter, seien es Franzosen oder Engländer, so gut wie ple_207.014
gar nicht voneinander; nicht einmal für Lionel hat der Dichter einen persönlichen ple_207.015
Zug gefunden, der die Leidenschaft seiner Heldin erklärlich machte. ple_207.016
In der Braut von Messina ist zwar das Geschlecht, dessen Untergang die ple_207.017
Tragödie behandelt, durch bestimmte Eigenschaften entschieden charakterisiert, ple_207.018
aber die Individualität der einzelnen Glieder desselben erscheint ple_207.019
doch wieder sehr beträchtlich ins Typische gemildert und damit abgeschwächt, ple_207.020
— man betrachte z. B. die Gestalt der Beatrice. Im Wilhelm ple_207.021
Tell ist dem handelnden Volke ein Gesamtcharakter deutlich aufgeprägt, ple_207.022
allein die einzelnen unterscheiden sich wiederum im wesentlichen nur nach ple_207.023
Alter, Stand und höchstens nach Temperament; — der Titelheld allein ist, ple_207.024
wenn auch in großen Zügen, individuell gesehen. Im Demetrius dagegen ple_207.025
kehrte der Dichter in allem Wesentlichen zur Methode des Wallenstein ple_207.026
zurück und erreichte nach längerem, für die kurze Dauer seines Lebens ple_207.027
allzu langem Umweg wieder die volle Höhe dichterischer Gestaltungskraft.
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Mit der Methode der Charakteristik hängt die Art der Milieuschilderung ple_207.029
unmittelbar und notwendig zusammen. Auch diese wird der idealistische ple_207.030
Dichter nur in allgemeinen und typischen Zügen behandeln, ja, ple_207.031
er wird sie oft genug nur andeuten, wie Goethe im Tasso, oder er wird ple_207.032
sogar gänzlich von ihr absehen, wie die klassische französische Dichtung, ple_207.033
Molière eingeschlossen, getan hat. Für den naturalistischen Dichter ist ple_207.034
dagegen die anschauliche Charakteristik der Verhältnisse und Umgebung, ple_207.035
aus der seine Menschen hervorgehen, unentbehrlich, denn diese letzteren ple_207.036
sind erst durch sie verständlich. Ja, er wird dazu neigen, seine Menschen ple_207.037
nur als Teilerscheinungen eines charakteristischen Milieus aufzufassen und ple_207.038
dadurch dem einzelnen ein Interesse zu entziehen, das er freilich dem ple_207.039
Ganzen dafür wieder zuwendet. So in einem großen Teil des Zolaschen ple_207.040
Romanzyklus Rougon Macquart, so besonders in Gerhart Hauptmanns ple_207.041
Webern und seinem Florian Geyer.
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Das Typische ist zwar anschaulich, aber es verkörpert eine allgemeine ple_207.043
Idee. Daher ist man geneigt, in dem Dichter idealer Richtung
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