Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_168.001 ple_168.009 ple_168.029 ple_168.001 ple_168.009 ple_168.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0182" n="168"/><lb n="ple_168.001"/> werden, von Akt zu Akt. Es ist undramatisch, wenn wir an irgend <lb n="ple_168.002"/> einer Stelle der Dichtung das Gefühl erhalten, sie könnte nun allenfalls <lb n="ple_168.003"/> zu Ende sein, oder gar, sie müßte hier eigentlich zu Ende sein. Das <lb n="ple_168.004"/> erstere ist nach dem vierten Akt von Goethes Götz der Fall, und wo der <lb n="ple_168.005"/> Fehler weit plumper ist, nach dem dritten Akt von Beer-Hofmanns schon einmal <lb n="ple_168.006"/> angeführtem Grafen von Charolais. Daher reicht denn die Person des <lb n="ple_168.007"/> Helden niemals aus, um dem Drama die Einheit zu geben, die sein Wesen <lb n="ple_168.008"/> erfordert.</p> <p><lb n="ple_168.009"/> Daß es in der Hinsicht — trotz Aristoteles — mit dem Epos und dem <lb n="ple_168.010"/> Roman anders steht, daß die epische Einheit eine minder feste und geschlossene <lb n="ple_168.011"/> ist wie die des Dramas, haben wir im vorigen Abschnitt gesehen. <lb n="ple_168.012"/> Besonders wo das Epos und der aus ihm entsprungene Roman <lb n="ple_168.013"/> Entwicklungsgeschichte, Bildungsgeschichte des Helden geworden ist, muß <lb n="ple_168.014"/> der Zusammenhang dieser Entwicklung die Einheit der Handlung ersetzen. <lb n="ple_168.015"/> Immerhin wird es auch hier vorteilhaft sein, wenn die Fäden nicht allzu <lb n="ple_168.016"/> lose geschlungen werden und in einem gut komponierten Roman wird <lb n="ple_168.017"/> nicht nur eine Steigerung, sondern auch eine gewisse Entsprechung der <lb n="ple_168.018"/> Ereignisse, eine Beschränkung der Nebenpersonen, so daß dieselben <lb n="ple_168.019"/> Menschen in verschiedenen Phasen des Verlaufs wiederkehren, angestrebt <lb n="ple_168.020"/> werden, wie wir das schon in Wilhelm Meister, von modernen Romanen <lb n="ple_168.021"/> aber besonders bei Dickens und Friedrich Spielhagen beobachten können. <lb n="ple_168.022"/> Allein mit diesen Kunstmitteln wird doch mehr einer Zersplitterung vorgebeugt, <lb n="ple_168.023"/> als daß eine einheitliche Handlung erzielt würde. Denn die <lb n="ple_168.024"/> Entwicklung eines Menschen setzt stets eine Reihe von aufeinanderfolgenden <lb n="ple_168.025"/> Einwirkungen von mehr oder weniger tief eingreifenden Ereignissen <lb n="ple_168.026"/> und Handlungen voraus, die weder zeitlich zusammenfallen, <lb n="ple_168.027"/> noch mit einiger Wahrscheinlichkeit sich um denselben Gegenstand drehen <lb n="ple_168.028"/> können.</p> <p><lb n="ple_168.029"/> Hieraus folgt nun aber auch, daß eine solche Charakterentwicklung <lb n="ple_168.030"/> nicht in den Bereich der dramatischen Kunst fällt. Ein einzelnes Ereignis, <lb n="ple_168.031"/> sei es noch so schicksalsschwer, vermag die allmähliche Bildung eines <lb n="ple_168.032"/> Charakters niemals zu erklären, die Vielheit der Einflüsse, aus denen sie <lb n="ple_168.033"/> hervorgeht, nicht zu ersetzen. Im äußersten Falle wird es eine einzelne <lb n="ple_168.034"/> entscheidende Umwandlung herbeiführen, und eine solche finden wir denn <lb n="ple_168.035"/> auch zumal in der Tragödie nicht selten. Aber es ist zumeist eine Wandlung, <lb n="ple_168.036"/> die der Zerstörung oder Zersetzung des Charakters gleichkommt: <lb n="ple_168.037"/> unter den Folgen seiner eigenen Tat wird der Wille des Helden, um mit <lb n="ple_168.038"/> Schopenhauer zu sprechen, gebrochen. Leidenschaftliches oder doch <lb n="ple_168.039"/> energisches Streben schlägt in Resignation um, so bei Shakespeares Brutus, <lb n="ple_168.040"/> bei Schillers Maria Stuart. Oder der Wille wird bis zu gewaltsamer Überspannung <lb n="ple_168.041"/> gesteigert und gewissermaßen verzerrt, wie in Macbeth. In beiden <lb n="ple_168.042"/> Fällen bereitet die innere Wandlung nur die Katastrophe vor, ist eigentlich <lb n="ple_168.043"/> nichts als die innere Katastrophe vor der äußeren. Wo dagegen die entscheidende </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [168/0182]
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werden, von Akt zu Akt. Es ist undramatisch, wenn wir an irgend ple_168.002
einer Stelle der Dichtung das Gefühl erhalten, sie könnte nun allenfalls ple_168.003
zu Ende sein, oder gar, sie müßte hier eigentlich zu Ende sein. Das ple_168.004
erstere ist nach dem vierten Akt von Goethes Götz der Fall, und wo der ple_168.005
Fehler weit plumper ist, nach dem dritten Akt von Beer-Hofmanns schon einmal ple_168.006
angeführtem Grafen von Charolais. Daher reicht denn die Person des ple_168.007
Helden niemals aus, um dem Drama die Einheit zu geben, die sein Wesen ple_168.008
erfordert.
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Daß es in der Hinsicht — trotz Aristoteles — mit dem Epos und dem ple_168.010
Roman anders steht, daß die epische Einheit eine minder feste und geschlossene ple_168.011
ist wie die des Dramas, haben wir im vorigen Abschnitt gesehen. ple_168.012
Besonders wo das Epos und der aus ihm entsprungene Roman ple_168.013
Entwicklungsgeschichte, Bildungsgeschichte des Helden geworden ist, muß ple_168.014
der Zusammenhang dieser Entwicklung die Einheit der Handlung ersetzen. ple_168.015
Immerhin wird es auch hier vorteilhaft sein, wenn die Fäden nicht allzu ple_168.016
lose geschlungen werden und in einem gut komponierten Roman wird ple_168.017
nicht nur eine Steigerung, sondern auch eine gewisse Entsprechung der ple_168.018
Ereignisse, eine Beschränkung der Nebenpersonen, so daß dieselben ple_168.019
Menschen in verschiedenen Phasen des Verlaufs wiederkehren, angestrebt ple_168.020
werden, wie wir das schon in Wilhelm Meister, von modernen Romanen ple_168.021
aber besonders bei Dickens und Friedrich Spielhagen beobachten können. ple_168.022
Allein mit diesen Kunstmitteln wird doch mehr einer Zersplitterung vorgebeugt, ple_168.023
als daß eine einheitliche Handlung erzielt würde. Denn die ple_168.024
Entwicklung eines Menschen setzt stets eine Reihe von aufeinanderfolgenden ple_168.025
Einwirkungen von mehr oder weniger tief eingreifenden Ereignissen ple_168.026
und Handlungen voraus, die weder zeitlich zusammenfallen, ple_168.027
noch mit einiger Wahrscheinlichkeit sich um denselben Gegenstand drehen ple_168.028
können.
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Hieraus folgt nun aber auch, daß eine solche Charakterentwicklung ple_168.030
nicht in den Bereich der dramatischen Kunst fällt. Ein einzelnes Ereignis, ple_168.031
sei es noch so schicksalsschwer, vermag die allmähliche Bildung eines ple_168.032
Charakters niemals zu erklären, die Vielheit der Einflüsse, aus denen sie ple_168.033
hervorgeht, nicht zu ersetzen. Im äußersten Falle wird es eine einzelne ple_168.034
entscheidende Umwandlung herbeiführen, und eine solche finden wir denn ple_168.035
auch zumal in der Tragödie nicht selten. Aber es ist zumeist eine Wandlung, ple_168.036
die der Zerstörung oder Zersetzung des Charakters gleichkommt: ple_168.037
unter den Folgen seiner eigenen Tat wird der Wille des Helden, um mit ple_168.038
Schopenhauer zu sprechen, gebrochen. Leidenschaftliches oder doch ple_168.039
energisches Streben schlägt in Resignation um, so bei Shakespeares Brutus, ple_168.040
bei Schillers Maria Stuart. Oder der Wille wird bis zu gewaltsamer Überspannung ple_168.041
gesteigert und gewissermaßen verzerrt, wie in Macbeth. In beiden ple_168.042
Fällen bereitet die innere Wandlung nur die Katastrophe vor, ist eigentlich ple_168.043
nichts als die innere Katastrophe vor der äußeren. Wo dagegen die entscheidende
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