Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_167.001 ple_167.016 ple_167.029 ple_167.031 ple_167.001 ple_167.016 ple_167.029 ple_167.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0181" n="167"/><lb n="ple_167.001"/> die ihn so erscheinen läßt, so entsteht das Lustspiel. Das gleiche <lb n="ple_167.002"/> Motiv kann bisweilen einen Gegenstand für Tragödie und Lustspiel bilden, <lb n="ple_167.003"/> wie etwa die Liebe zwischen zwei jungen Leuten von ungleichem Stande; <lb n="ple_167.004"/> es hängt dann eben davon ab, wie der Dichter die Bedeutung des <lb n="ple_167.005"/> Kampfes und der Gegnerschaft wertet. Das Formenprinzip beider Arten <lb n="ple_167.006"/> des Dramas ist also im Grunde dasselbe. Nur kommt's im Lustspiel nicht <lb n="ple_167.007"/> so genau darauf an, daß es immer gewahrt bleibt. Wenn wir lachen, <lb n="ple_167.008"/> fragen wir nicht, ob es die Kunst der objektiven Darstellung oder nur der <lb n="ple_167.009"/> subjektive Witz des Dichters ist, was uns lachen macht. Und wir lassen <lb n="ple_167.010"/> uns das Eingreifen des Zufalls, die Lösung des Konflikts durch einen vermenschlichten <lb n="ple_167.011"/> Deus ex machina ganz wohl gefallen, während solche Dinge <lb n="ple_167.012"/> in der Tragödie jede tiefere Wirkung zerstören. Die Charakterkomödie <lb n="ple_167.013"/> Molières freilich, die mit der scherzhaften Darstellung einen bedeutsamen <lb n="ple_167.014"/> und sehr ernst gemeinten Gehalt verbindet, verschmäht dergleichen Mittel <lb n="ple_167.015"/> ebenso wie das ernsthafte Drama überhaupt. —</p> <p><lb n="ple_167.016"/> Aus allen bisherigen Betrachtungen ergibt sich, daß Charaktere und <lb n="ple_167.017"/> Handlungen im Drama nicht voneinander getrennt denkbar sind. Schon <lb n="ple_167.018"/> in der ersten Konzeption des Dichters ist offenbar beides verknüpft. Der <lb n="ple_167.019"/> Dramatiker sieht weder Menschen, zu denen er sich die Handlungen, noch <lb n="ple_167.020"/> Handlungen, zu denen er sich die Menschen suchen müßte, sondern was <lb n="ple_167.021"/> er sieht und zur Darstellung bringen will, sind eben handelnde Menschen, <lb n="ple_167.022"/> von bestimmten Charakteren ausgehende bestimmte Handlungen; und sicher <lb n="ple_167.023"/> ist es allgemein gültig, wenn Gustav Freytag (Technik des Dramas S. 11) <lb n="ple_167.024"/> hervorhebt, „daß die Hauptteile der Handlung, das Wesen der Hauptcharaktere, <lb n="ple_167.025"/> ja auch etwas von der Farbe des Stückes zugleich mit der Idee <lb n="ple_167.026"/> in der Seele aufleuchten, zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und <lb n="ple_167.027"/> daß sie sofort wie ein Lebendes wirken, nach allen Seiten weitere Bildung <lb n="ple_167.028"/> erzeugend“.</p> <p><lb n="ple_167.029"/> Die notwendige Verknüpfung zwischen Charakter und Handlung bildet <lb n="ple_167.030"/> somit den Kern und Mittelpunkt jeder wahrhaft dramatischen Dichtung.</p> <p><lb n="ple_167.031"/> Diese Handlung nun ist in jedem echten Drama eine einheitliche. <lb n="ple_167.032"/> Das strenge Gesetz der Konzentration, welches das Wesen der dramatischen <lb n="ple_167.033"/> Poesie beherrscht, verlangt gebieterisch <hi rendition="#g">einen</hi> Mittelpunkt, um den sich <lb n="ple_167.034"/> das Interesse bewegt, <hi rendition="#g">ein</hi> Ziel, dem es zustrebt. Denn wie die Erfahrung <lb n="ple_167.035"/> immer wieder zeigt: wir vermögen nur <hi rendition="#g">einmal</hi> im Rahmen eines Dramas <lb n="ple_167.036"/> aus der vollen Empfindung heraus den Verlauf mit dem Helden zu erleben, <lb n="ple_167.037"/> die Reihen der Affekte lebendig mitzufühlen, welche Kampf, Sieg <lb n="ple_167.038"/> und Gefahr auslösen. Hat die Anspannung durch den Abschluß einer <lb n="ple_167.039"/> Handlung einmal nachgelassen, so ist sie niemals wieder in gleicher Stärke <lb n="ple_167.040"/> zu erreichen, und die Erneuerung bleibt stets eine Abschwächung statt der <lb n="ple_167.041"/> Steigerung, welche das allgemeine Gesetz der künstlerischen Wirkung verlangt. <lb n="ple_167.042"/> Daher darf die Handlung auf der Bühne nicht absetzen: der Zuschauer <lb n="ple_167.043"/> muß in leidenschaftlicher Anteilnahme und steter Spannung mitgerissen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [167/0181]
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die ihn so erscheinen läßt, so entsteht das Lustspiel. Das gleiche ple_167.002
Motiv kann bisweilen einen Gegenstand für Tragödie und Lustspiel bilden, ple_167.003
wie etwa die Liebe zwischen zwei jungen Leuten von ungleichem Stande; ple_167.004
es hängt dann eben davon ab, wie der Dichter die Bedeutung des ple_167.005
Kampfes und der Gegnerschaft wertet. Das Formenprinzip beider Arten ple_167.006
des Dramas ist also im Grunde dasselbe. Nur kommt's im Lustspiel nicht ple_167.007
so genau darauf an, daß es immer gewahrt bleibt. Wenn wir lachen, ple_167.008
fragen wir nicht, ob es die Kunst der objektiven Darstellung oder nur der ple_167.009
subjektive Witz des Dichters ist, was uns lachen macht. Und wir lassen ple_167.010
uns das Eingreifen des Zufalls, die Lösung des Konflikts durch einen vermenschlichten ple_167.011
Deus ex machina ganz wohl gefallen, während solche Dinge ple_167.012
in der Tragödie jede tiefere Wirkung zerstören. Die Charakterkomödie ple_167.013
Molières freilich, die mit der scherzhaften Darstellung einen bedeutsamen ple_167.014
und sehr ernst gemeinten Gehalt verbindet, verschmäht dergleichen Mittel ple_167.015
ebenso wie das ernsthafte Drama überhaupt. —
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Aus allen bisherigen Betrachtungen ergibt sich, daß Charaktere und ple_167.017
Handlungen im Drama nicht voneinander getrennt denkbar sind. Schon ple_167.018
in der ersten Konzeption des Dichters ist offenbar beides verknüpft. Der ple_167.019
Dramatiker sieht weder Menschen, zu denen er sich die Handlungen, noch ple_167.020
Handlungen, zu denen er sich die Menschen suchen müßte, sondern was ple_167.021
er sieht und zur Darstellung bringen will, sind eben handelnde Menschen, ple_167.022
von bestimmten Charakteren ausgehende bestimmte Handlungen; und sicher ple_167.023
ist es allgemein gültig, wenn Gustav Freytag (Technik des Dramas S. 11) ple_167.024
hervorhebt, „daß die Hauptteile der Handlung, das Wesen der Hauptcharaktere, ple_167.025
ja auch etwas von der Farbe des Stückes zugleich mit der Idee ple_167.026
in der Seele aufleuchten, zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und ple_167.027
daß sie sofort wie ein Lebendes wirken, nach allen Seiten weitere Bildung ple_167.028
erzeugend“.
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Die notwendige Verknüpfung zwischen Charakter und Handlung bildet ple_167.030
somit den Kern und Mittelpunkt jeder wahrhaft dramatischen Dichtung.
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Diese Handlung nun ist in jedem echten Drama eine einheitliche. ple_167.032
Das strenge Gesetz der Konzentration, welches das Wesen der dramatischen ple_167.033
Poesie beherrscht, verlangt gebieterisch einen Mittelpunkt, um den sich ple_167.034
das Interesse bewegt, ein Ziel, dem es zustrebt. Denn wie die Erfahrung ple_167.035
immer wieder zeigt: wir vermögen nur einmal im Rahmen eines Dramas ple_167.036
aus der vollen Empfindung heraus den Verlauf mit dem Helden zu erleben, ple_167.037
die Reihen der Affekte lebendig mitzufühlen, welche Kampf, Sieg ple_167.038
und Gefahr auslösen. Hat die Anspannung durch den Abschluß einer ple_167.039
Handlung einmal nachgelassen, so ist sie niemals wieder in gleicher Stärke ple_167.040
zu erreichen, und die Erneuerung bleibt stets eine Abschwächung statt der ple_167.041
Steigerung, welche das allgemeine Gesetz der künstlerischen Wirkung verlangt. ple_167.042
Daher darf die Handlung auf der Bühne nicht absetzen: der Zuschauer ple_167.043
muß in leidenschaftlicher Anteilnahme und steter Spannung mitgerissen
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