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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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und Experimentator gleichfalls bedarf. Ein Kunstwerk könnte auf diese ple_160.002
Weise offenbar niemals zustande kommen, sondern eben nur eine Reihe ple_160.003
von psychologischen Versuchen. Aber auch Spielhagen befindet sich offenbar ple_160.004
in ähnlichem Irrtum, wenn er glaubt, daß Beobachtung und induktive ple_160.005
Erkenntnis des Weltlaufs die dichterisch phantasievolle Anschauung jemals ple_160.006
ersetzen könnte.1) Es ist richtig, daß der Romandichter, der das Leben ple_160.007
schildern will, es kennen muß, und daß zumal der moderne Schriftsteller, ple_160.008
der die verschiedenartigsten menschlichen Kreise und Tätigkeiten in ihrer ple_160.009
Einwirkung auf das Seelenleben seines Helden zu schildern unternimmt, ple_160.010
ohne Scharfblick und Fleiß, ohne Beobachtung und Studium seine Aufgabe ple_160.011
niemals erfüllen kann. Allein diese Studien sowohl wie die Kenntnisse, ple_160.012
die daraus hervorgehen, liefern doch nur das Material für die schöpferische ple_160.013
Tätigkeit seiner Phantasie. Diese selbst setzt erst da ein, wo jene vorbereitende ple_160.014
Beobachtung aufhört. Dann wird das Wissen zum Schauen, das ple_160.015
Gedächtnis wandelt sich in die schaffende Phantasie, die nach ihren eigenen ple_160.016
Gesetzen mit dem Erfahrungsstoffe schaltet und in freier Schöpfung die ple_160.017
Wirklichkeit wiederholt. Wie überall, so entsteht auch hier ein Kunstwerk ple_160.018
erst dann, wenn der Kampf mit dem Stoff siegreich beendet ist, wenn der ple_160.019
Künstler den Stoff, den er braucht, wie umfangreich er auch immer sein ple_160.020
mag, sich völlig angeeignet und bewältigt hat. Der Romandichter ist freilich ple_160.021
kein Lyriker; seine Dichtung erwächst ihm nicht nur aus dem inneren ple_160.022
Erleben und Empfinden. Seine Probleme also mögen ihm immerhin ple_160.023
aus der Außenwelt kommen, natürlich nur, soweit sie sein Innenleben ple_160.024
mit in Anspruch nimmt, ihm selbst zum Erlebnis wird, denn sonst wäre ple_160.025
er kein Dichter. Die Mittel zu ihrer Lösung muß er aus Erfahrung und ple_160.026
Beobachtung gewinnen. Aber eine Dichtung schafft er erst dann, wenn ple_160.027
aus Problemen und Erfahrungen eine neue gegenständliche Welt vor seinem ple_160.028
inneren Blick erstanden ist, denn nur eine solche vermag die Dichtung ple_160.029
widerzuspiegeln. In dieser Hinsicht ist nur ein quantitativer Unterschied ple_160.030
zwischen dem Maß von Wissen und Beobachten, das der Romandichter ple_160.031
und das der Dramatiker braucht. Wenn man z. B. die Studien kennt, die ple_160.032
Schiller zum Demetrius gemacht hat, wenn man weiß wie sehr er sich in ple_160.033
die Einzelheiten des Milieus vertieft hat, wie er etwa russische Bauten ple_160.034
studierte, so sieht man, daß seine Arbeit sich im wesentlichen nicht von ple_160.035
der des modernen Romandichters unterscheidet. Aber in seiner Dichtung ple_160.036
ist dieser ganze Stoff gleichsam aufgezehrt und, um Schillers eigenen Ausdruck ple_160.037
zu gebrauchen, von der künstlerischen Form vertilgt; seine Phantasie ple_160.038
schaltet frei schaffend über das Wissen, das er aufgehäuft hat. Und genau ple_160.039
das Gleiche gilt vom Roman. Mag der Beobachtungs- und Wissensstoff, den ple_160.040
der Dichter braucht, noch so detailliert, noch so technisch trocken, noch so

1) ple_160.041
Er gerät dadurch in einen offenbaren Widerspruch mit der unter der voriger ple_160.042
Seite angeführten Äußerung über die Eigenart dichterischer Produktion.

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und Experimentator gleichfalls bedarf. Ein Kunstwerk könnte auf diese ple_160.002
Weise offenbar niemals zustande kommen, sondern eben nur eine Reihe ple_160.003
von psychologischen Versuchen. Aber auch Spielhagen befindet sich offenbar ple_160.004
in ähnlichem Irrtum, wenn er glaubt, daß Beobachtung und induktive ple_160.005
Erkenntnis des Weltlaufs die dichterisch phantasievolle Anschauung jemals ple_160.006
ersetzen könnte.1) Es ist richtig, daß der Romandichter, der das Leben ple_160.007
schildern will, es kennen muß, und daß zumal der moderne Schriftsteller, ple_160.008
der die verschiedenartigsten menschlichen Kreise und Tätigkeiten in ihrer ple_160.009
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ohne Scharfblick und Fleiß, ohne Beobachtung und Studium seine Aufgabe ple_160.011
niemals erfüllen kann. Allein diese Studien sowohl wie die Kenntnisse, ple_160.012
die daraus hervorgehen, liefern doch nur das Material für die schöpferische ple_160.013
Tätigkeit seiner Phantasie. Diese selbst setzt erst da ein, wo jene vorbereitende ple_160.014
Beobachtung aufhört. Dann wird das Wissen zum Schauen, das ple_160.015
Gedächtnis wandelt sich in die schaffende Phantasie, die nach ihren eigenen ple_160.016
Gesetzen mit dem Erfahrungsstoffe schaltet und in freier Schöpfung die ple_160.017
Wirklichkeit wiederholt. Wie überall, so entsteht auch hier ein Kunstwerk ple_160.018
erst dann, wenn der Kampf mit dem Stoff siegreich beendet ist, wenn der ple_160.019
Künstler den Stoff, den er braucht, wie umfangreich er auch immer sein ple_160.020
mag, sich völlig angeeignet und bewältigt hat. Der Romandichter ist freilich ple_160.021
kein Lyriker; seine Dichtung erwächst ihm nicht nur aus dem inneren ple_160.022
Erleben und Empfinden. Seine Probleme also mögen ihm immerhin ple_160.023
aus der Außenwelt kommen, natürlich nur, soweit sie sein Innenleben ple_160.024
mit in Anspruch nimmt, ihm selbst zum Erlebnis wird, denn sonst wäre ple_160.025
er kein Dichter. Die Mittel zu ihrer Lösung muß er aus Erfahrung und ple_160.026
Beobachtung gewinnen. Aber eine Dichtung schafft er erst dann, wenn ple_160.027
aus Problemen und Erfahrungen eine neue gegenständliche Welt vor seinem ple_160.028
inneren Blick erstanden ist, denn nur eine solche vermag die Dichtung ple_160.029
widerzuspiegeln. In dieser Hinsicht ist nur ein quantitativer Unterschied ple_160.030
zwischen dem Maß von Wissen und Beobachten, das der Romandichter ple_160.031
und das der Dramatiker braucht. Wenn man z. B. die Studien kennt, die ple_160.032
Schiller zum Demetrius gemacht hat, wenn man weiß wie sehr er sich in ple_160.033
die Einzelheiten des Milieus vertieft hat, wie er etwa russische Bauten ple_160.034
studierte, so sieht man, daß seine Arbeit sich im wesentlichen nicht von ple_160.035
der des modernen Romandichters unterscheidet. Aber in seiner Dichtung ple_160.036
ist dieser ganze Stoff gleichsam aufgezehrt und, um Schillers eigenen Ausdruck ple_160.037
zu gebrauchen, von der künstlerischen Form vertilgt; seine Phantasie ple_160.038
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das Gleiche gilt vom Roman. Mag der Beobachtungs- und Wissensstoff, den ple_160.040
der Dichter braucht, noch so detailliert, noch so technisch trocken, noch so

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/174>, abgerufen am 25.11.2024.