Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_158.001 ple_158.020 ple_158.026 ple_158.001 ple_158.020 ple_158.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0172" n="158"/><lb n="ple_158.001"/> liegen, daß, wenn das Werk seiner Idee nach durchaus Bildungsgeschichte <lb n="ple_158.002"/> des Helden ist, so doch in der Ausführung das Milieu der Schauspielertruppe <lb n="ple_158.003"/> und das des Grafenschlosses in ihrer Kontrastwirkung mehr Interesse <lb n="ple_158.004"/> erregen als die Schicksale des Helden. Und so ist denn auch in den <lb n="ple_158.005"/> meisten Romanen von Dickens die Schilderung von Sitten und Zuständen, <lb n="ple_158.006"/> von landschaftlichen und gesellschaftlichen Eindrücken bedeutsamer und <lb n="ple_158.007"/> interessanter als die Geschichte des Helden an sich: zumeist die Lebensgeschichte <lb n="ple_158.008"/> eines braven und normalen Jungen, dem die Hindernisse und <lb n="ple_158.009"/> Schwierigkeiten nicht von innen, sondern von außen erwachsen. Auch der <lb n="ple_158.010"/> „Zeitroman“ der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, der <lb n="ple_158.011"/> wesentlich Schilderung sozialer und politischer Zustände, oft mit ausgesprochener <lb n="ple_158.012"/> Tendenz, im Auge hat, trägt in seinen bedeutendsten Vertretern <lb n="ple_158.013"/> biographische Form. Mindestens sind es die Jahre der entscheidenden <lb n="ple_158.014"/> Entwicklung zum Manne, die uns geschildert werden und deren Verlauf <lb n="ple_158.015"/> den Faden bildet, an den sich die Schilderungen aufreihen, wie Gustav <lb n="ple_158.016"/> Freytags „Soll und Haben“, Spielhagens „In Reih' und Glied“ und „Hammer <lb n="ple_158.017"/> und Ambos“, und, wenigstens in demjenigen Motiv, das aus dem Wirrwarr <lb n="ple_158.018"/> des Nebeneinander von Handlungen am deutlichsten hervortritt, Gutzkows <lb n="ple_158.019"/> „Zauberer von Rom“.</p> <p><lb n="ple_158.020"/> Endlich erscheint auch der französische Naturalismus, der dem Milieu- <lb n="ple_158.021"/> Roman einen besonders ausgeprägten Charakter gegeben hat, gerne als <lb n="ple_158.022"/> Biographie; so Flauberts Madame Bovary, das berühmte Muster seiner <lb n="ple_158.023"/> Gattung, so die meisten der großen Romane Zolas, die schon durch den <lb n="ple_158.024"/> Grundgedanken des Zyklus („Histoire naturelle et sociale d'une famille“) <lb n="ple_158.025"/> auf die Entwicklungsgeschichte ihrer Helden hinweisen.</p> <p><lb n="ple_158.026"/> Die Entwicklung des Milieu-Romans in seiner extremen Form führt <lb n="ple_158.027"/> uns zu einer letzten Frage, die für das Wesen der Romandichtung von <lb n="ple_158.028"/> prinzipieller Bedeutung ist. Daß in der epischen Poesie überhaupt mehr <lb n="ple_158.029"/> als in den beiden anderen Gattungen Verstandesforderungen zu Worte <lb n="ple_158.030"/> kommen, haben schon Goethe und Schiller wiederholt hervorgehoben. „Da <lb n="ple_158.031"/> das epische Gedicht“, schreibt Goethe am 19. April 1797, „in der gleichen <lb n="ple_158.032"/> Ruhe und Behaglichkeit angehört werden soll, so macht der Verstand vielleicht <lb n="ple_158.033"/> mehr als an andere Dichtarten seine Forderungen.“ Und Schiller <lb n="ple_158.034"/> geht in seinem Urteil über den Roman bekanntlich so weit, daß er ihn <lb n="ple_158.035"/> nur als ein halbes Kunstwerk gelten lassen will. „Die Form des Wilhelm <lb n="ple_158.036"/> Meister,“ schreibt er am 20. Oktober 1797, „wie überhaupt jede Romanform, <lb n="ple_158.037"/> ist schlechterdings nicht poetisch, sie liegt ganz nur im Gebiete des <lb n="ple_158.038"/> Verstandes, steht unter allen seinen Forderungen und partizipiert auch von <lb n="ple_158.039"/> allen seinen Grenzen.“ Dieses allgemeine Urteil scheint nun da, wo der <lb n="ple_158.040"/> Roman Schilderung des Lebens in seinen einzelnen Kreisen, Darstellung <lb n="ple_158.041"/> realer Verhältnisse, Lebensberufe u. s. w. sein will, eine besondere Bedeutung <lb n="ple_158.042"/> und Berechtigung zu erhalten. Wenn Humboldt die „Beschauung“ oder die <lb n="ple_158.043"/> Betrachtung der Welt als den eigentlichen Zustand des epischen Schaffens </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [158/0172]
ple_158.001
liegen, daß, wenn das Werk seiner Idee nach durchaus Bildungsgeschichte ple_158.002
des Helden ist, so doch in der Ausführung das Milieu der Schauspielertruppe ple_158.003
und das des Grafenschlosses in ihrer Kontrastwirkung mehr Interesse ple_158.004
erregen als die Schicksale des Helden. Und so ist denn auch in den ple_158.005
meisten Romanen von Dickens die Schilderung von Sitten und Zuständen, ple_158.006
von landschaftlichen und gesellschaftlichen Eindrücken bedeutsamer und ple_158.007
interessanter als die Geschichte des Helden an sich: zumeist die Lebensgeschichte ple_158.008
eines braven und normalen Jungen, dem die Hindernisse und ple_158.009
Schwierigkeiten nicht von innen, sondern von außen erwachsen. Auch der ple_158.010
„Zeitroman“ der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, der ple_158.011
wesentlich Schilderung sozialer und politischer Zustände, oft mit ausgesprochener ple_158.012
Tendenz, im Auge hat, trägt in seinen bedeutendsten Vertretern ple_158.013
biographische Form. Mindestens sind es die Jahre der entscheidenden ple_158.014
Entwicklung zum Manne, die uns geschildert werden und deren Verlauf ple_158.015
den Faden bildet, an den sich die Schilderungen aufreihen, wie Gustav ple_158.016
Freytags „Soll und Haben“, Spielhagens „In Reih' und Glied“ und „Hammer ple_158.017
und Ambos“, und, wenigstens in demjenigen Motiv, das aus dem Wirrwarr ple_158.018
des Nebeneinander von Handlungen am deutlichsten hervortritt, Gutzkows ple_158.019
„Zauberer von Rom“.
ple_158.020
Endlich erscheint auch der französische Naturalismus, der dem Milieu- ple_158.021
Roman einen besonders ausgeprägten Charakter gegeben hat, gerne als ple_158.022
Biographie; so Flauberts Madame Bovary, das berühmte Muster seiner ple_158.023
Gattung, so die meisten der großen Romane Zolas, die schon durch den ple_158.024
Grundgedanken des Zyklus („Histoire naturelle et sociale d'une famille“) ple_158.025
auf die Entwicklungsgeschichte ihrer Helden hinweisen.
ple_158.026
Die Entwicklung des Milieu-Romans in seiner extremen Form führt ple_158.027
uns zu einer letzten Frage, die für das Wesen der Romandichtung von ple_158.028
prinzipieller Bedeutung ist. Daß in der epischen Poesie überhaupt mehr ple_158.029
als in den beiden anderen Gattungen Verstandesforderungen zu Worte ple_158.030
kommen, haben schon Goethe und Schiller wiederholt hervorgehoben. „Da ple_158.031
das epische Gedicht“, schreibt Goethe am 19. April 1797, „in der gleichen ple_158.032
Ruhe und Behaglichkeit angehört werden soll, so macht der Verstand vielleicht ple_158.033
mehr als an andere Dichtarten seine Forderungen.“ Und Schiller ple_158.034
geht in seinem Urteil über den Roman bekanntlich so weit, daß er ihn ple_158.035
nur als ein halbes Kunstwerk gelten lassen will. „Die Form des Wilhelm ple_158.036
Meister,“ schreibt er am 20. Oktober 1797, „wie überhaupt jede Romanform, ple_158.037
ist schlechterdings nicht poetisch, sie liegt ganz nur im Gebiete des ple_158.038
Verstandes, steht unter allen seinen Forderungen und partizipiert auch von ple_158.039
allen seinen Grenzen.“ Dieses allgemeine Urteil scheint nun da, wo der ple_158.040
Roman Schilderung des Lebens in seinen einzelnen Kreisen, Darstellung ple_158.041
realer Verhältnisse, Lebensberufe u. s. w. sein will, eine besondere Bedeutung ple_158.042
und Berechtigung zu erhalten. Wenn Humboldt die „Beschauung“ oder die ple_158.043
Betrachtung der Welt als den eigentlichen Zustand des epischen Schaffens
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |