ple_001.001 Erster Teil. ple_001.002 Historisch-kritische Grundlegung.
ple_001.003 1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik.
Wie so ple_001.004 viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren ple_001.005 Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in ple_001.006 eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung, ple_001.007 die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst ple_001.008 benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind ple_001.009 zunächst nichts anderes als technische Vorschriften für den praktischen ple_001.010 Gebrauch des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers, ple_001.011 der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch ple_001.012 keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche ple_001.013 Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der ple_001.014 Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung ple_001.015 ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn ple_001.016 wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht ple_001.017 in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und ple_001.018 so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden ple_001.019 des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht ple_001.020 völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten ple_001.021 Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter ple_001.022 geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung ple_001.023 einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder ple_001.024 deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen ple_001.025 Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis ple_001.026 dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des Julius Cäsar Scaligerple_001.027 (1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie ple_001.028 im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für ple_001.029 zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch ple_001.030 solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen ple_001.031 Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im
ple_001.001 Erster Teil. ple_001.002 Historisch-kritische Grundlegung.
ple_001.003 1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik.
Wie so ple_001.004 viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren ple_001.005 Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in ple_001.006 eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung, ple_001.007 die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst ple_001.008 benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind ple_001.009 zunächst nichts anderes als technische Vorschriften für den praktischen ple_001.010 Gebrauch des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers, ple_001.011 der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch ple_001.012 keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche ple_001.013 Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der ple_001.014 Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung ple_001.015 ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn ple_001.016 wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht ple_001.017 in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und ple_001.018 so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden ple_001.019 des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht ple_001.020 völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten ple_001.021 Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter ple_001.022 geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung ple_001.023 einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder ple_001.024 deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen ple_001.025 Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis ple_001.026 dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des Julius Cäsar Scaligerple_001.027 (1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie ple_001.028 im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für ple_001.029 zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch ple_001.030 solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen ple_001.031 Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im
<TEI><text><front><divn="1"><pbfacs="#f0015"n="E1"/></div></front><body><divn="1"><divn="2"><head><hirendition="#c"><lbn="ple_001.001"/><hirendition="#aq">Erster Teil. <lbn="ple_001.002"/>
Historisch-kritische Grundlegung.</hi></hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><head><lbn="ple_001.003"/><hirendition="#b">1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik.</hi></head><p> Wie so <lbn="ple_001.004"/>
viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren <lbn="ple_001.005"/>
Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in <lbn="ple_001.006"/>
eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung, <lbn="ple_001.007"/>
die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst <lbn="ple_001.008"/>
benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind <lbn="ple_001.009"/>
zunächst nichts anderes als <hirendition="#g">technische Vorschriften für den praktischen <lbn="ple_001.010"/>
Gebrauch</hi> des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers, <lbn="ple_001.011"/>
der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch <lbn="ple_001.012"/>
keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche <lbn="ple_001.013"/>
Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der <lbn="ple_001.014"/>
Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung <lbn="ple_001.015"/>
ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn <lbn="ple_001.016"/>
wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht <lbn="ple_001.017"/>
in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und <lbn="ple_001.018"/>
so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden <lbn="ple_001.019"/>
des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht <lbn="ple_001.020"/>
völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten <lbn="ple_001.021"/>
Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter <lbn="ple_001.022"/>
geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung <lbn="ple_001.023"/>
einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder <lbn="ple_001.024"/>
deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen <lbn="ple_001.025"/>
Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis <lbn="ple_001.026"/>
dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des <hirendition="#g">Julius Cäsar Scaliger</hi><lbn="ple_001.027"/>
(1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie <lbn="ple_001.028"/>
im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für <lbn="ple_001.029"/>
zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch <lbn="ple_001.030"/>
solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen <lbn="ple_001.031"/>
Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[E1/0015]
ple_001.001
Erster Teil. ple_001.002
Historisch-kritische Grundlegung.
ple_001.003
1. Praktische und theoretische Bedeutung der Poetik. Wie so ple_001.004
viele andere theoretische Wissenschaften verdankt auch die Poetik ihren ple_001.005
Ursprung einem praktischen Bedürfnis. Der Dichter, der schöpferisch in ple_001.006
eine literarische Tradition eintritt, muß die Formen und Mittel der Dichtung, ple_001.007
die seine Vorgänger entwickelt und benutzt haben, kennen, um sie selbst ple_001.008
benutzen und weiter entwickeln zu können. Die Regeln der Poetik sind ple_001.009
zunächst nichts anderes als technische Vorschriften für den praktischen ple_001.010
Gebrauch des schaffenden Dichters oder auch des Liebhabers, ple_001.011
der ihn verstehen und gelegentlich nachahmen will. Damit braucht noch ple_001.012
keineswegs angenommen zu sein, daß ein jeder auch ohne natürliche ple_001.013
Begabung dichten lernen kann; wohl aber ist vorausgesetzt, daß in der ple_001.014
Poesie, wie bei jeder anderen Kunstübung auch, zur natürlichen Begabung ple_001.015
ein gewisses Lehrgut, eine erlernbare Technik hinzukommen muß, wenn ple_001.016
wirkliche Kunstwerke entstehen sollen. In diesem Sinne ist der Unterricht ple_001.017
in der Poetik in die Lateinschule der Renaissance eingeführt worden, und ple_001.018
so hat er sich in die lateinischen und später in die deutschen Stunden ple_001.019
des neuhumanistischen Gymnasiums fortgepflanzt. Noch heute ist er nicht ple_001.020
völlig verschwunden: zahlreiche Schulkompendien, welche die alt überlieferten ple_001.021
Formen, mit mehr oder weniger modernen Zutaten versetzt, weiter ple_001.022
geben, legen davon Zeugnis ab, wiewohl der Zweck, der dieser Unterweisung ple_001.023
einst Sinn und Wert verlieh, mit der Übung, lateinische oder ple_001.024
deutsche Verse zu machen, verloren gegangen ist. Das Muster einer systematischen ple_001.025
Poetik großen Stils, die einem solchen praktischen Bedürfnis ple_001.026
dienen wollte, bildete einst das berühmte Buch des Julius Cäsar Scaliger ple_001.027
(1561 erschienen), welches die Regeln und Schemata der antiken Poesie ple_001.028
im Sinne und für den Gebrauch des Humanismus zusammenfaßte und für ple_001.029
zahllose spätere Lehrbücher Stoff und Vorbild gegeben hat. Aber auch ple_001.030
solche Behandlungen der Poetik, welche nicht den elementaren oder wissenschaftlichen ple_001.031
Schulgebrauch, sondern das literarische Bedürfnis selbst im
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. E1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/15>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.