Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_134.001 ple_134.035 1) ple_134.038
Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik ple_134.039 und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere ple_134.040 immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der ple_134.041 Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten ple_134.042 auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der ple_134.043 Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik. ple_134.001 ple_134.035 1) ple_134.038
Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik ple_134.039 und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere ple_134.040 immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der ple_134.041 Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten ple_134.042 auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der ple_134.043 Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0148" n="134"/><lb n="ple_134.001"/> keine feste und starre, wie es überhaupt in der Kunst nirgends starre <lb n="ple_134.002"/> Grenzlinien gibt. Je stärkere und tiefere Gefühle ein Gedanke auslöst, <lb n="ple_134.003"/> desto mehr schwindet sein abstrakter Charakter, und diese Wirkung hervorzurufen, <lb n="ple_134.004"/> ist die Kunst des Gedankendichters; je tiefer und echter also diese <lb n="ple_134.005"/> Kunst, desto enger berühren sich beide Gattungen der Lyrik. Gehören <lb n="ple_134.006"/> Gedichte wie „Prometheus“ und die „Grenzen der Menschheit“, gehört <lb n="ple_134.007"/> Rückerts „sterbende Blume“ der einen oder der anderen an? Allgemeine <lb n="ple_134.008"/> Gedanken sind hier zu so tief ergreifenden Gefühlserlebnissen geworden, <lb n="ple_134.009"/> daß solche Gedichte ganz den Charakter der Gefühlslyrik tragen, und <lb n="ple_134.010"/> Schillers Dichtung zeigt uns, daß die Tiefe der Gefühlsresonanz noch weit <lb n="ple_134.011"/> abstraktere Ideen künstlerisch gestalten und zu echt lyrischer Wirkung zu <lb n="ple_134.012"/> bringen vermag. Nur wo dieses Verhältnis zwischen Gedankenwelt und <lb n="ple_134.013"/> Gefühlsleben vorhanden ist, kann eine philosophische Lyrik entstehen. <lb n="ple_134.014"/> Andernfalls bleibt die Reflexionspoesie im Didaktischen stecken;<note xml:id="ple_134_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_134.038"/> Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik <lb n="ple_134.039"/> und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere <lb n="ple_134.040"/> immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der <lb n="ple_134.041"/> Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten <lb n="ple_134.042"/> auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der <lb n="ple_134.043"/> Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik.</note> es entstehen <lb n="ple_134.015"/> Lehrgedichte im alten Sinne des Wortes, die mit der Poesie nichts <lb n="ple_134.016"/> gemeinsam haben als die äußere Form. Wir kennen sie aus dem siebzehnten <lb n="ple_134.017"/> und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; aber auch <lb n="ple_134.018"/> Rückert hat, besonders in der Weisheit des Brahmanen, vielfach trockene <lb n="ple_134.019"/> und lehrhafte Gedankengänge moralischen oder metaphysischen Inhalts in <lb n="ple_134.020"/> glatte Verse gebracht. Nur große und bedeutsame Ideen können es sein, <lb n="ple_134.021"/> die das Gefühlsleben tief berühren, Ideen, welche die Begeisterung des <lb n="ple_134.022"/> Dichters und seiner Leser zu erwecken vermögen und eben hierdurch dem <lb n="ple_134.023"/> Verstandesmäßigen die künstlerische Wendung geben. Sehr richtig drückt <lb n="ple_134.024"/> Körner dieses Verhältnis in einem Brief an Schiller aus (Briefwechsel I <lb n="ple_134.025"/> S. 282). „Wahrheiten können ebenso gut begeistern als Empfindungen, <lb n="ple_134.026"/> und wenn der Dichter nicht bloß lehrt, sondern seine Begeisterung mitteilt, <lb n="ple_134.027"/> so bleibt er in seiner Sphäre. Was der Philosoph beweisen muß, <lb n="ple_134.028"/> kann der Dichter als einen gewagten Satz, als einen Orakelspruch hinwerfen. <lb n="ple_134.029"/> Die Schönheit der Idee macht, daß man es ihm aufs Wort glaubt.“ <lb n="ple_134.030"/> Wo aber ein Kreis solcher Ideen vorhanden ist, aus dem der Dichter schöpft, <lb n="ple_134.031"/> da kann sogar ein einzelner scheinbar trockener und fachwissenschaftlicher <lb n="ple_134.032"/> Gedanke Gefühlswärme empfangen und Begeisterung erregen, wie das <lb n="ple_134.033"/> Goethes beide Gedichte „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Die <lb n="ple_134.034"/> Metamorphose der Tiere“ mit schöner Deutlichkeit zeigen.</p> <p><lb n="ple_134.035"/> Zwei solche Gedankenkreise sind es nun, die in der deutschen <lb n="ple_134.036"/> Dichtung besonders bedeutungsvoll hervortreten: die moralisch ästhetische <lb n="ple_134.037"/> Ideenwelt Schillers und die pantheistische Weltanschauung Herder-Goethes. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [134/0148]
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keine feste und starre, wie es überhaupt in der Kunst nirgends starre ple_134.002
Grenzlinien gibt. Je stärkere und tiefere Gefühle ein Gedanke auslöst, ple_134.003
desto mehr schwindet sein abstrakter Charakter, und diese Wirkung hervorzurufen, ple_134.004
ist die Kunst des Gedankendichters; je tiefer und echter also diese ple_134.005
Kunst, desto enger berühren sich beide Gattungen der Lyrik. Gehören ple_134.006
Gedichte wie „Prometheus“ und die „Grenzen der Menschheit“, gehört ple_134.007
Rückerts „sterbende Blume“ der einen oder der anderen an? Allgemeine ple_134.008
Gedanken sind hier zu so tief ergreifenden Gefühlserlebnissen geworden, ple_134.009
daß solche Gedichte ganz den Charakter der Gefühlslyrik tragen, und ple_134.010
Schillers Dichtung zeigt uns, daß die Tiefe der Gefühlsresonanz noch weit ple_134.011
abstraktere Ideen künstlerisch gestalten und zu echt lyrischer Wirkung zu ple_134.012
bringen vermag. Nur wo dieses Verhältnis zwischen Gedankenwelt und ple_134.013
Gefühlsleben vorhanden ist, kann eine philosophische Lyrik entstehen. ple_134.014
Andernfalls bleibt die Reflexionspoesie im Didaktischen stecken; 1) es entstehen ple_134.015
Lehrgedichte im alten Sinne des Wortes, die mit der Poesie nichts ple_134.016
gemeinsam haben als die äußere Form. Wir kennen sie aus dem siebzehnten ple_134.017
und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; aber auch ple_134.018
Rückert hat, besonders in der Weisheit des Brahmanen, vielfach trockene ple_134.019
und lehrhafte Gedankengänge moralischen oder metaphysischen Inhalts in ple_134.020
glatte Verse gebracht. Nur große und bedeutsame Ideen können es sein, ple_134.021
die das Gefühlsleben tief berühren, Ideen, welche die Begeisterung des ple_134.022
Dichters und seiner Leser zu erwecken vermögen und eben hierdurch dem ple_134.023
Verstandesmäßigen die künstlerische Wendung geben. Sehr richtig drückt ple_134.024
Körner dieses Verhältnis in einem Brief an Schiller aus (Briefwechsel I ple_134.025
S. 282). „Wahrheiten können ebenso gut begeistern als Empfindungen, ple_134.026
und wenn der Dichter nicht bloß lehrt, sondern seine Begeisterung mitteilt, ple_134.027
so bleibt er in seiner Sphäre. Was der Philosoph beweisen muß, ple_134.028
kann der Dichter als einen gewagten Satz, als einen Orakelspruch hinwerfen. ple_134.029
Die Schönheit der Idee macht, daß man es ihm aufs Wort glaubt.“ ple_134.030
Wo aber ein Kreis solcher Ideen vorhanden ist, aus dem der Dichter schöpft, ple_134.031
da kann sogar ein einzelner scheinbar trockener und fachwissenschaftlicher ple_134.032
Gedanke Gefühlswärme empfangen und Begeisterung erregen, wie das ple_134.033
Goethes beide Gedichte „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Die ple_134.034
Metamorphose der Tiere“ mit schöner Deutlichkeit zeigen.
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Zwei solche Gedankenkreise sind es nun, die in der deutschen ple_134.036
Dichtung besonders bedeutungsvoll hervortreten: die moralisch ästhetische ple_134.037
Ideenwelt Schillers und die pantheistische Weltanschauung Herder-Goethes.
1) ple_134.038
Sehr richtig scheidet Werner gelegentlich zwischen reflektierender Gefühlslyrik ple_134.039
und gefühlsmäßiger Gedankendichtung; nur hätte er hinzufügen sollen, daß die erstere ple_134.040
immer eine Abschwächung der Gefühlswärme, die zweite jedoch eine Erwärmung der ple_134.041
Gedankenwelt bedeutet. Das erstere zeigt z. B. die Liebeslyrik Shakespeares, nicht selten ple_134.042
auch Platens und Rückerts (wie die Form des Sonetts, was wir oben schon sahen, der ple_134.043
Reflexion besonders entgegenkommt). Das Gegenteil beweist Schillers Lyrik.
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