Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
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ple_130.001 ple_130.109 ple_130.109 ple_130.119 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0144" n="130"/> <lb n="ple_130.001"/> <cb type="start"/> <lg> <l>Wenn du eine Rose pflückest,</l> <lb n="ple_130.002"/> <l>Und mit kindischem Behagen</l> <lb n="ple_130.003"/> <l>Sie entblätterst und zerstückest —</l> <lb n="ple_130.004"/> <l>Hörst du mich nicht leise klagen?</l> </lg> <cb/> <lb n="ple_130.101"/> <lg> <l>Wenn bei solchem Rosenbrechen</l> <lb n="ple_130.102"/> <l>Böse Dornen einmal wagen</l> <lb n="ple_130.103"/> <l>In die Finger dich zu stechen —</l> <lb n="ple_130.104"/> <l>Hörst du mich nicht leise klagen?</l> </lg> <cb type="end"/> <lb n="ple_130.105"/> <lg> <l>Hörst du nicht die Klagetöne</l> <lb n="ple_130.106"/> <l>Selbst im Ton der eignen Kehle?</l> <lb n="ple_130.107"/> <l>In der Nacht seufz' ich und stöhne</l> <lb n="ple_130.108"/> <l>Aus der Tiefe deiner Seele.</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_130.109"/> Wie diese Verse zeigen, kann es vorkommen, daß der Gedanke eines Gedichts <lb n="ple_130.110"/> eine Vielheit der Symbole fordert, um zu anschaulichem Ausdruck <lb n="ple_130.111"/> zu kommen. Wir werden sehen, daß dies in der reflektierenden Poesie <lb n="ple_130.112"/> weit öfter der Fall ist, als in der rein gefühlsmäßigen Lyrik. Hier wird <lb n="ple_130.113"/> im allgemeinen das einheitliche Erlebnis, das zum Ausdruck kommen soll, <lb n="ple_130.114"/> auch eine gewisse Einheitlichkeit der Symbolik, einen Zusammenschluß der <lb n="ple_130.115"/> Bilder zu einem Ganzen fordern. Man betrachte z. B. die Eichendorffschen <lb n="ple_130.116"/> Verse: <lb n="ple_130.117"/> <cb type="start"/><hi rendition="#aq"><lg><l>Dämmrung will die Flügel spreiten,</l><lb n="ple_130.118"/><l>Schaurig rühren sich die Bäume,</l><lb n="ple_130.119"/><l>Wolken ziehn wie schwere Träume —,</l><lb n="ple_130.120"/><l>Was will dieses Graun bedeuten? </l></lg><lg><lb n="ple_130.121"/><l>Hast ein Reh du lieb vor andern,</l><lb n="ple_130.122"/><l>Lass' es nicht alleine grasen,</l><lb n="ple_130.123"/><l>Jäger ziehn im Wald und blasen,</l><lb n="ple_130.124"/><l>Stimmen hin und wieder wandern.</l></lg><cb/><lb n="ple_130.101"/><lg><l>Hast du einen Freund hienieden,</l><lb n="ple_130.102"/><l>Trau ihm nicht zu dieser Stunde,</l><lb n="ple_130.103"/><l>Freundlich wohl mit Aug' und Munde,</l><lb n="ple_130.104"/><l>Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden. </l></lg><lg><lb n="ple_130.105"/><l>Was heut' müde gehet unter,</l><lb n="ple_130.106"/><l>Hebt sich morgen neu geboren.</l><lb n="ple_130.107"/><l>Manches bleibt in Nacht verloren —</l><lb n="ple_130.108"/><l>Hüte dich, bleib wach und munter!</l></lg></hi><cb type="end"/></p> <p><lb n="ple_130.109"/> Eine Reihe an sich verschiedener sinnbildlicher Anschauungen, die sich <lb n="ple_130.110"/> gleichwohl zu einem ganz einheitlichen Stimmungsbild zusammenschließen. <lb n="ple_130.111"/> Wo diese Einheit fehlt oder nicht deutlich erkennbar ist, da wird das Gedicht <lb n="ple_130.112"/> als Ganzes etwas Undeutliches und Unklares erhalten, das nicht nur <lb n="ple_130.113"/> das Verständnis im engeren Sinne, sondern auch das Nachfühlen erschwert <lb n="ple_130.114"/> und den Eindruck zersplittert. Dies ist z. B. in Goethes <hi rendition="#g">Harzreise</hi> <lb n="ple_130.115"/> der Fall; man vergleiche sie nur mit dem so viel fester gefugten <lb n="ple_130.116"/> <hi rendition="#g">Schwager Kronos,</hi> der ihr der Anlage nach verwandt ist. In dieser einheitlichen <lb n="ple_130.117"/> Ausgestaltung beruht ein wesentlicher Teil der formgebenden <lb n="ple_130.118"/> Arbeit des lyrischen Dichters.</p> <p><lb n="ple_130.119"/> Nach allem, was wir von der Bedeutung des Symbolischen für die <lb n="ple_130.120"/> Lyrik gesehen haben, kann sich nun wohl die Frage aufdrängen, welchen <lb n="ple_130.121"/> Sinn es hat, wenn eine moderne Richtung die Bezeichnung Symbolismus <lb n="ple_130.122"/> annimmt und damit zugleich den Anspruch erhebt, die Kunst sinnbildlicher <lb n="ple_130.123"/> Darstellung in besonderer Weise verstanden und durchgeführt zu <lb n="ple_130.124"/> haben. Über diese Erscheinung mögen einige Worte aufklären; sie gehört <lb n="ple_130.125"/> eigentlich in die Geschichte der modernen Literatur, ist aber doch <lb n="ple_130.126"/> auch prinzipiell für das Wesen der Lyrik bedeutsam.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [130/0144]
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Wenn du eine Rose pflückest, ple_130.002
Und mit kindischem Behagen ple_130.003
Sie entblätterst und zerstückest — ple_130.004
Hörst du mich nicht leise klagen?
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Wenn bei solchem Rosenbrechen ple_130.102
Böse Dornen einmal wagen ple_130.103
In die Finger dich zu stechen — ple_130.104
Hörst du mich nicht leise klagen?
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Hörst du nicht die Klagetöne ple_130.106
Selbst im Ton der eignen Kehle? ple_130.107
In der Nacht seufz' ich und stöhne ple_130.108
Aus der Tiefe deiner Seele.
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Wie diese Verse zeigen, kann es vorkommen, daß der Gedanke eines Gedichts ple_130.110
eine Vielheit der Symbole fordert, um zu anschaulichem Ausdruck ple_130.111
zu kommen. Wir werden sehen, daß dies in der reflektierenden Poesie ple_130.112
weit öfter der Fall ist, als in der rein gefühlsmäßigen Lyrik. Hier wird ple_130.113
im allgemeinen das einheitliche Erlebnis, das zum Ausdruck kommen soll, ple_130.114
auch eine gewisse Einheitlichkeit der Symbolik, einen Zusammenschluß der ple_130.115
Bilder zu einem Ganzen fordern. Man betrachte z. B. die Eichendorffschen ple_130.116
Verse: ple_130.117
Dämmrung will die Flügel spreiten, ple_130.118
Schaurig rühren sich die Bäume, ple_130.119
Wolken ziehn wie schwere Träume —, ple_130.120
Was will dieses Graun bedeuten?
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Hast ein Reh du lieb vor andern, ple_130.122
Lass' es nicht alleine grasen, ple_130.123
Jäger ziehn im Wald und blasen, ple_130.124
Stimmen hin und wieder wandern.
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Hast du einen Freund hienieden, ple_130.102
Trau ihm nicht zu dieser Stunde, ple_130.103
Freundlich wohl mit Aug' und Munde, ple_130.104
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.
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Was heut' müde gehet unter, ple_130.106
Hebt sich morgen neu geboren. ple_130.107
Manches bleibt in Nacht verloren — ple_130.108
Hüte dich, bleib wach und munter!
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Eine Reihe an sich verschiedener sinnbildlicher Anschauungen, die sich ple_130.110
gleichwohl zu einem ganz einheitlichen Stimmungsbild zusammenschließen. ple_130.111
Wo diese Einheit fehlt oder nicht deutlich erkennbar ist, da wird das Gedicht ple_130.112
als Ganzes etwas Undeutliches und Unklares erhalten, das nicht nur ple_130.113
das Verständnis im engeren Sinne, sondern auch das Nachfühlen erschwert ple_130.114
und den Eindruck zersplittert. Dies ist z. B. in Goethes Harzreise ple_130.115
der Fall; man vergleiche sie nur mit dem so viel fester gefugten ple_130.116
Schwager Kronos, der ihr der Anlage nach verwandt ist. In dieser einheitlichen ple_130.117
Ausgestaltung beruht ein wesentlicher Teil der formgebenden ple_130.118
Arbeit des lyrischen Dichters.
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Nach allem, was wir von der Bedeutung des Symbolischen für die ple_130.120
Lyrik gesehen haben, kann sich nun wohl die Frage aufdrängen, welchen ple_130.121
Sinn es hat, wenn eine moderne Richtung die Bezeichnung Symbolismus ple_130.122
annimmt und damit zugleich den Anspruch erhebt, die Kunst sinnbildlicher ple_130.123
Darstellung in besonderer Weise verstanden und durchgeführt zu ple_130.124
haben. Über diese Erscheinung mögen einige Worte aufklären; sie gehört ple_130.125
eigentlich in die Geschichte der modernen Literatur, ist aber doch ple_130.126
auch prinzipiell für das Wesen der Lyrik bedeutsam.
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