Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_105.001 ple_105.018 ple_105.001 ple_105.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0119" n="105"/><lb n="ple_105.001"/> wird die Durchführung einer rhythmischen Charakteristik im allgemeinen <lb n="ple_105.002"/> nicht möglich sein. Ein paar gläzende Ausnahmen freilich kennt die <lb n="ple_105.003"/> deutsche Dichtung. Schon in Bürgers Leonore malt der aufgeregte Rhythmus <lb n="ple_105.004"/> gleich anschaulich das atemlose Tempo des Totenritts wie die wilde Verzweiflung <lb n="ple_105.005"/> des Mädchens, die ihm vorangeht, und wohl das höchte Meisterwerk <lb n="ple_105.006"/> dieser Art ist Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Die <lb n="ple_105.007"/> Rhythmen sind auch hier höchst einfach, die Strophe keineswegs verwickelt; <lb n="ple_105.008"/> aber es bleibt auch bei genauerem Studium immer wieder erstaunlich, wie <lb n="ple_105.009"/> völlig entgegengesetzte Stimmungen und Situationen, etwa das jambisch <lb n="ple_105.010"/> anapästische Metrum der zweiten Strophenhälfte gleich anschaulich zu malen <lb n="ple_105.011"/> vermag: <lb n="ple_105.012"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen;</l><lb n="ple_105.013"/><l>Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,</l><lb n="ple_105.014"/><l>Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.<lb/> — — — — — — — — — — — — — — — — —</l></lg><lg><lb n="ple_105.015"/><l>Es singen die Priester: Wir tragen, die Alten,</l><lb n="ple_105.016"/><l>Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,</l><lb n="ple_105.017"/><l>Wir tragen die Jugend, noch eh' sie's gedacht.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_105.018"/> Das Allegro grazioso des Tanzes, wie das Maestoso des Leichenmarsches <lb n="ple_105.019"/> und der Jubel des triumphierenden Finales wird von demselben Rhythmus <lb n="ple_105.020"/> getragen. Wie ist das möglich? Das Rätsel löst sich dadurch, daß es <lb n="ple_105.021"/> nicht allein das rein klangliche Moment ist, aus welchem die Wirkung <lb n="ple_105.022"/> hervorgeht, die wir als Tonmalerei empfinden. Vielmehr vermischt sich <lb n="ple_105.023"/> der Stimmungsgehalt der Worte — von dem wir im vorigen Kapitel ausführlich <lb n="ple_105.024"/> gehandelt haben — so unmittelbar mit der Klangwirkung, daß wir <lb n="ple_105.025"/> zumeist gar nicht imstande sind, sie auseinander zu halten. Worte, die <lb n="ple_105.026"/> stärkere Gefühlstöne erregen, fallen an sich auch stärker ins Gewicht. Sie <lb n="ple_105.027"/> werden beim Sprechen unwillkürlich schwerer betont, und auch beim stillen <lb n="ple_105.028"/> Lesen schiebt sich die Stärke des psychischen Vorgangs unmerklich an <lb n="ple_105.029"/> die Stelle der Intensität des Klanges. Worte wie „weich“, „Saitenspiel“ <lb n="ple_105.030"/> in jenem oben angeführten Goetheschen Verse, Wendungen wie „Wir <lb n="ple_105.031"/> tragen die Alten — wir tragen die Jugend, noch eh sie's gedacht“ wirken <lb n="ple_105.032"/> nicht bloß durch ihren Klang musikalisch, sondern auch durch die Vorstellungen, <lb n="ple_105.033"/> die sich mit ihnen verbinden. In den farbensatten Bildern, <lb n="ple_105.034"/> die Hofmannsthal von Tizians zauberreichem Wolkenhimmel entwirft, <lb n="ple_105.035"/> spielen Klang und Bedeutung beständig ineinander, um uns den Wechsel <lb n="ple_105.036"/> von Dunkel und leuchtender Helle empfinden zu lassen. Allein nur die <lb n="ple_105.037"/> höchste Meisterschaft vermag es, dieses Verhältnis innerhalb eines fester <lb n="ple_105.038"/> strophischen Gebildes durch ein ganzes größeres Gedicht durchzuführen. <lb n="ple_105.039"/> Im allgemeinen wird auch das völlig frei und zum Zweck der Charakteristik <lb n="ple_105.040"/> erfundene Metrum, sobald es sich in fester Strophenform wiederholt, <lb n="ple_105.041"/> nur dem ungefähren Charakter nach oder auch an einzelnen Stellen, wo <lb n="ple_105.042"/> dieser Charakter besonders deutlich hervortritt, seinem Zwecke genügen. <lb n="ple_105.043"/> Besonders belehrend ist das Beispiel Klopstocks, den sein tiefes musikalisches </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [105/0119]
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wird die Durchführung einer rhythmischen Charakteristik im allgemeinen ple_105.002
nicht möglich sein. Ein paar gläzende Ausnahmen freilich kennt die ple_105.003
deutsche Dichtung. Schon in Bürgers Leonore malt der aufgeregte Rhythmus ple_105.004
gleich anschaulich das atemlose Tempo des Totenritts wie die wilde Verzweiflung ple_105.005
des Mädchens, die ihm vorangeht, und wohl das höchte Meisterwerk ple_105.006
dieser Art ist Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Die ple_105.007
Rhythmen sind auch hier höchst einfach, die Strophe keineswegs verwickelt; ple_105.008
aber es bleibt auch bei genauerem Studium immer wieder erstaunlich, wie ple_105.009
völlig entgegengesetzte Stimmungen und Situationen, etwa das jambisch ple_105.010
anapästische Metrum der zweiten Strophenhälfte gleich anschaulich zu malen ple_105.011
vermag: ple_105.012
Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen; ple_105.013
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen, ple_105.014
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.
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Es singen die Priester: Wir tragen, die Alten, ple_105.016
Nach langem Ermatten und spätem Erkalten, ple_105.017
Wir tragen die Jugend, noch eh' sie's gedacht.
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Das Allegro grazioso des Tanzes, wie das Maestoso des Leichenmarsches ple_105.019
und der Jubel des triumphierenden Finales wird von demselben Rhythmus ple_105.020
getragen. Wie ist das möglich? Das Rätsel löst sich dadurch, daß es ple_105.021
nicht allein das rein klangliche Moment ist, aus welchem die Wirkung ple_105.022
hervorgeht, die wir als Tonmalerei empfinden. Vielmehr vermischt sich ple_105.023
der Stimmungsgehalt der Worte — von dem wir im vorigen Kapitel ausführlich ple_105.024
gehandelt haben — so unmittelbar mit der Klangwirkung, daß wir ple_105.025
zumeist gar nicht imstande sind, sie auseinander zu halten. Worte, die ple_105.026
stärkere Gefühlstöne erregen, fallen an sich auch stärker ins Gewicht. Sie ple_105.027
werden beim Sprechen unwillkürlich schwerer betont, und auch beim stillen ple_105.028
Lesen schiebt sich die Stärke des psychischen Vorgangs unmerklich an ple_105.029
die Stelle der Intensität des Klanges. Worte wie „weich“, „Saitenspiel“ ple_105.030
in jenem oben angeführten Goetheschen Verse, Wendungen wie „Wir ple_105.031
tragen die Alten — wir tragen die Jugend, noch eh sie's gedacht“ wirken ple_105.032
nicht bloß durch ihren Klang musikalisch, sondern auch durch die Vorstellungen, ple_105.033
die sich mit ihnen verbinden. In den farbensatten Bildern, ple_105.034
die Hofmannsthal von Tizians zauberreichem Wolkenhimmel entwirft, ple_105.035
spielen Klang und Bedeutung beständig ineinander, um uns den Wechsel ple_105.036
von Dunkel und leuchtender Helle empfinden zu lassen. Allein nur die ple_105.037
höchste Meisterschaft vermag es, dieses Verhältnis innerhalb eines fester ple_105.038
strophischen Gebildes durch ein ganzes größeres Gedicht durchzuführen. ple_105.039
Im allgemeinen wird auch das völlig frei und zum Zweck der Charakteristik ple_105.040
erfundene Metrum, sobald es sich in fester Strophenform wiederholt, ple_105.041
nur dem ungefähren Charakter nach oder auch an einzelnen Stellen, wo ple_105.042
dieser Charakter besonders deutlich hervortritt, seinem Zwecke genügen. ple_105.043
Besonders belehrend ist das Beispiel Klopstocks, den sein tiefes musikalisches
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