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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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ple_104.001

Uns hat der winter kalt und ander not ple_104.002
vil getan ze leide. ple_104.003
Ich wande, daz ich iemer bluomen rot ple_104.004
gesaehe an grüener heide. ple_104.005
Doch schate ez guoten liuten, waere ich tot, ple_104.006
die nach fröuden rungen ple_104.007
und die gerne tanzten unde sprungen.

ple_104.008
ausklingend in das schwermütige: ple_104.009

Got gesegen iuch alle: ple_104.010
wünschet noch, daz mir ein heil gevalle.1)

ple_104.011
Und ähnliche Eindrücke erhält man, wenn man die frische und fröhliche ple_104.012
Weise "Ir sult sprechen willekommen" mit dem langgezogenen melancholischen ple_104.013
Rhythmus jenes späten Klagegesangs vergleicht: "Owe war sint ple_104.014
verswunden alliu meiniu jar!"

ple_104.015
Im allgemeinen muß ein regelmäßig wiederkehrendes Metrum, muß ple_104.016
insbesondere die Strophenbildung die rhythmische Charakteristik erschweren. ple_104.017
Denn was charakterisiert werden soll, Stimmung und Inhalt des Gedichtes, ple_104.018
ist bei weitem beweglicher als eine solche feste Form, und diese vermag ple_104.019
daher nicht, sich ihm im einzelnen anzuschmiegen. Daher wird für gewöhnlich ple_104.020
nur in kleineren Gedichten, in denen die Stimmung wesentlich ple_104.021
die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie ple_104.022
in dem angeführten Gedicht Walters oder dem S. 125 abgedruckten Goetheschen ple_104.023
"Nähe des Geliebten". Auch Heine sind ein paar vollendete kleine ple_104.024
Stimmungsbilder dieser Art gelungen: ple_104.025
[Beginn Spaltensatz]1. ple_104.026

Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.027
Wohl über das wilde Meer; ple_104.028
Du weißt, wie sehr ich traurig bin ple_104.029
Und kränkst mich doch so schwer.
ple_104.030
Dein Herz ist treulos wie der Wind ple_104.031
Und flattert hin und her. ple_104.032
Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.033
Wohl über das wilde Meer.
[Spaltenumbruch] ple_104.101
2. ple_104.102
Eine starke, schwarze Barke ple_104.103
Segelt trauervoll dahin. ple_104.104
Die vermummten und verstummten ple_104.105
Leichenträger sitzen drin.
-- -- -- -- -- -- -- -- -- --
ple_104.106
Aus der Tiefe klingt's, als riefe ple_104.107
Eine kranke Nixenbraut, ple_104.108
Und die Wellen, sie zerschellen ple_104.109
An dem Kahn, wie Klagelaut.
[Ende Spaltensatz]

ple_104.110
Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen ple_104.111
Gedichten jedoch, zumal erzählenden, die eine fortschreitende Handlung darstellen,

1) ple_104.112
Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt ple_104.113
und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: ple_104.114
Diffugere nives, redeunt iam gramina campis ple_104.115
Arboribusque comae ple_104.116
Mutat terra vices et decrescentia ripas ple_104.117
Flumina praetereunt.
ple_104.118
In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die ple_104.119
Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und ple_104.120
kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch ple_104.121
das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns ple_104.122
spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände.

ple_104.001

Uns hât der winter kalt und ander nôt ple_104.002
vil getân ze leide. ple_104.003
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gesaehe an grüener heide. ple_104.005
Doch schâte ez guoten liuten, waere ich tôt, ple_104.006
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und die gerne tanzten unde sprungen.

ple_104.008
ausklingend in das schwermütige: ple_104.009

Got gesegen iuch alle: ple_104.010
wünschet noch, daz mir ein heil gevalle.1)

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Und ähnliche Eindrücke erhält man, wenn man die frische und fröhliche ple_104.012
Weise „Ir sult sprechen willekommen“ mit dem langgezogenen melancholischen ple_104.013
Rhythmus jenes späten Klagegesangs vergleicht: „Owê war sint ple_104.014
verswunden alliu mîniu jâr!“

ple_104.015
Im allgemeinen muß ein regelmäßig wiederkehrendes Metrum, muß ple_104.016
insbesondere die Strophenbildung die rhythmische Charakteristik erschweren. ple_104.017
Denn was charakterisiert werden soll, Stimmung und Inhalt des Gedichtes, ple_104.018
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die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie ple_104.022
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Stimmungsbilder dieser Art gelungen: ple_104.025
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Wohl über das wilde Meer; ple_104.028
Du weißt, wie sehr ich traurig bin ple_104.029
Und kränkst mich doch so schwer.
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Dein Herz ist treulos wie der Wind ple_104.031
Und flattert hin und her. ple_104.032
Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.033
Wohl über das wilde Meer.
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Die vermummten und verstummten ple_104.105
Leichenträger sitzen drin.
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An dem Kahn, wie Klagelaut.
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Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen ple_104.111
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[104/0118] ple_104.001 Uns hât der winter kalt und ander nôt ple_104.002 vil getân ze leide. ple_104.003 Ich wânde, daz ich iemer bluomen rôt ple_104.004 gesaehe an grüener heide. ple_104.005 Doch schâte ez guoten liuten, waere ich tôt, ple_104.006 die nach fröuden rungen ple_104.007 und die gerne tanzten unde sprungen. ple_104.008 ausklingend in das schwermütige: ple_104.009 Got gesegen iuch alle: ple_104.010 wünschet noch, daz mir ein heil gevalle. 1) ple_104.011 Und ähnliche Eindrücke erhält man, wenn man die frische und fröhliche ple_104.012 Weise „Ir sult sprechen willekommen“ mit dem langgezogenen melancholischen ple_104.013 Rhythmus jenes späten Klagegesangs vergleicht: „Owê war sint ple_104.014 verswunden alliu mîniu jâr!“ ple_104.015 Im allgemeinen muß ein regelmäßig wiederkehrendes Metrum, muß ple_104.016 insbesondere die Strophenbildung die rhythmische Charakteristik erschweren. ple_104.017 Denn was charakterisiert werden soll, Stimmung und Inhalt des Gedichtes, ple_104.018 ist bei weitem beweglicher als eine solche feste Form, und diese vermag ple_104.019 daher nicht, sich ihm im einzelnen anzuschmiegen. Daher wird für gewöhnlich ple_104.020 nur in kleineren Gedichten, in denen die Stimmung wesentlich ple_104.021 die gleiche bleibt, eine durchgehende Übereinstimmung möglich sein, wie ple_104.022 in dem angeführten Gedicht Walters oder dem S. 125 abgedruckten Goetheschen ple_104.023 „Nähe des Geliebten“. Auch Heine sind ein paar vollendete kleine ple_104.024 Stimmungsbilder dieser Art gelungen: ple_104.025 1. ple_104.026 Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.027 Wohl über das wilde Meer; ple_104.028 Du weißt, wie sehr ich traurig bin ple_104.029 Und kränkst mich doch so schwer. ple_104.030 Dein Herz ist treulos wie der Wind ple_104.031 Und flattert hin und her. ple_104.032 Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff ple_104.033 Wohl über das wilde Meer. ple_104.101 2. ple_104.102 Eine starke, schwarze Barke ple_104.103 Segelt trauervoll dahin. ple_104.104 Die vermummten und verstummten ple_104.105 Leichenträger sitzen drin. — — — — — — — — — — ple_104.106 Aus der Tiefe klingt's, als riefe ple_104.107 Eine kranke Nixenbraut, ple_104.108 Und die Wellen, sie zerschellen ple_104.109 An dem Kahn, wie Klagelaut. ple_104.110 Auch die S. 129 angeführten Verse gehören hierher. In größeren strophischen ple_104.111 Gedichten jedoch, zumal erzählenden, die eine fortschreitende Handlung darstellen, 1) ple_104.112 Eine auffallende, wenn auch natürlich rein zufällige Ähnlichkeit nach Stimmungsgehalt ple_104.113 und Form weist dieses Lied mit dem schönen Horazischen Frühlingsgedicht auf: ple_104.114 Diffugere nives, redeunt iam gramina campis ple_104.115 Arboribusque comae ple_104.116 Mutat terra vices et decrescentia ripas ple_104.117 Flumina praetereunt. ple_104.118 In beiden Gedichten mischt sich der schwermütige Gedanke der Vergänglichkeit in die ple_104.119 Frühlingslust, und in beiden wird die Doppelstimmung durch den Wechsel längerer und ple_104.120 kurzer entschieden fallender Verse rhythmisch wiedergegeben. So durchaus antik auch ple_104.121 das eine empfunden ist und so entschieden das andere die Sprache des ritterlichen Spielmanns ple_104.122 spricht, die beiden großen Lyriker verschiedener Zeiten reichen sich hier die Hände.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/118>, abgerufen am 23.11.2024.