ple_097.001 In den Formen dagegen, die aus der italienischen Poesie in die Weltliteratur ple_097.002 und speziell durch die Romantik in die deutsche Dichtung gedrungen ple_097.003 sind, tritt der gestaltende Einfluß der Strophe in seiner künstlerischen ple_097.004 Bedeutung hervor. Im Triolett, im Ritornell und wie die Tändeleien ple_097.005 alle heißen -- man mag sie bei Minor, Neuhochdeutsche Metrik, S. 490 ff. ple_097.006 oder auch in Viehoffs Poetik S. 376 ff. im einzelnen nachlesen -- ist der ple_097.007 Inhalt zumeist dem Reimspiel vollkommen untergeordnet. Aber auch in ple_097.008 der ernsten achtzeiligen Stanze tragen die drei ersten Reimpaare einen ausgesprochen ple_097.009 ansteigenden rhythmischen Charakter, um mit dem letzten Reimpaar ple_097.010 gleichsam auf der erreichten Höhe zu verweilen und hierdurch einen ple_097.011 beruhigenden Abschluß herbeizuführen. Der Dichter ist dadurch genötigt, ple_097.012 auch die Sprache und damit Stimmung und Gehalt dreifach zu steigern, ple_097.013 um dann beruhigend abzuschließen. Die letzten zwei Zeilen verhalten sich ple_097.014 zu den ersten sechs wie die Antwort auf die Frage oder der Nachsatz zum ple_097.015 Vordersatz. Besonders schöne Beispiele bietet Goethes Zueignung, vor ple_097.016 allem in der Strophe: ple_097.017
"Kennst du mich nicht? sprach sie mit einem Munde,ple_097.018 Dem aller Lieb' und Treue Ton entfloß,ple_097.019 Erkennst du mich, die ich in manche Wundeple_097.020 Des Lebens dir den reinsten Balsam goß?ple_097.021 Du kennst mich wohl, an die zu ew'gem Bundeple_097.022 Dein strebend Herz sich fest und fester schloß.ple_097.023 Sah ich dich nicht mit heißen Herzenstränenple_097.024 Als Knabe schon nach mir dich eifrig sehnen?"
ple_097.025 Das gleiche zeigt uns der prächtige Schwung der Verse in dem ersten ple_097.026 Monolog der Jungfrau von Orleans.
ple_097.027 Hält man dagegen eine Stanze, in der diese innerliche Steigerung nicht ple_097.028 stattfindet, so fühlt man die Unvollkommenheit heraus; die lange Strophe ple_097.029 ermüdet, auch wenn die einzelnen Verse tadellos gebaut sind. Man vergleiche ple_097.030 die beiden folgenden Strophen aus Goethes "Geheimnissen" miteinander: ple_097.031
Schon sieht er dicht sich vor dem stillen Orte,ple_097.032 Der seinen Geist mit Ruh und Hoffnung füllt,ple_097.033 Und auf dem Bogen der geschlossnen Pforteple_097.034 Erblickt er ein geheimnisvolles Bild.ple_097.035 Er steht und sinnt und lispelt leise Worteple_097.036 Der Andacht, die in seinem Herzen quillt;ple_097.037 Er steht und sinnt, was hat das zu bedeuten?ple_097.038 Die Sonne sinkt und es verklingt das Läuten.
ple_097.039 Das Zeichen sieht er prächtig aufgerichtet,ple_097.040 Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht,ple_097.041 Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet,ple_097.042 Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht,ple_097.043 Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet,ple_097.044 Das in so mancher Siegesfahne weht:ple_097.045 Ein Labequell durchdringt die matten Glieder,ple_097.046 Er sieht das Kreuz und schlägt die Augen nieder.
ple_097.001 In den Formen dagegen, die aus der italienischen Poesie in die Weltliteratur ple_097.002 und speziell durch die Romantik in die deutsche Dichtung gedrungen ple_097.003 sind, tritt der gestaltende Einfluß der Strophe in seiner künstlerischen ple_097.004 Bedeutung hervor. Im Triolett, im Ritornell und wie die Tändeleien ple_097.005 alle heißen — man mag sie bei Minor, Neuhochdeutsche Metrik, S. 490 ff. ple_097.006 oder auch in Viehoffs Poetik S. 376 ff. im einzelnen nachlesen — ist der ple_097.007 Inhalt zumeist dem Reimspiel vollkommen untergeordnet. Aber auch in ple_097.008 der ernsten achtzeiligen Stanze tragen die drei ersten Reimpaare einen ausgesprochen ple_097.009 ansteigenden rhythmischen Charakter, um mit dem letzten Reimpaar ple_097.010 gleichsam auf der erreichten Höhe zu verweilen und hierdurch einen ple_097.011 beruhigenden Abschluß herbeizuführen. Der Dichter ist dadurch genötigt, ple_097.012 auch die Sprache und damit Stimmung und Gehalt dreifach zu steigern, ple_097.013 um dann beruhigend abzuschließen. Die letzten zwei Zeilen verhalten sich ple_097.014 zu den ersten sechs wie die Antwort auf die Frage oder der Nachsatz zum ple_097.015 Vordersatz. Besonders schöne Beispiele bietet Goethes Zueignung, vor ple_097.016 allem in der Strophe: ple_097.017
„Kennst du mich nicht? sprach sie mit einem Munde,ple_097.018 Dem aller Lieb' und Treue Ton entfloß,ple_097.019 Erkennst du mich, die ich in manche Wundeple_097.020 Des Lebens dir den reinsten Balsam goß?ple_097.021 Du kennst mich wohl, an die zu ew'gem Bundeple_097.022 Dein strebend Herz sich fest und fester schloß.ple_097.023 Sah ich dich nicht mit heißen Herzenstränenple_097.024 Als Knabe schon nach mir dich eifrig sehnen?“
ple_097.025 Das gleiche zeigt uns der prächtige Schwung der Verse in dem ersten ple_097.026 Monolog der Jungfrau von Orleans.
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Schon sieht er dicht sich vor dem stillen Orte,ple_097.032 Der seinen Geist mit Ruh und Hoffnung füllt,ple_097.033 Und auf dem Bogen der geschlossnen Pforteple_097.034 Erblickt er ein geheimnisvolles Bild.ple_097.035 Er steht und sinnt und lispelt leise Worteple_097.036 Der Andacht, die in seinem Herzen quillt;ple_097.037 Er steht und sinnt, was hat das zu bedeuten?ple_097.038 Die Sonne sinkt und es verklingt das Läuten.
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In den Formen dagegen, die aus der italienischen Poesie in die Weltliteratur ple_097.002
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Inhalt zumeist dem Reimspiel vollkommen untergeordnet. Aber auch in ple_097.008
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ansteigenden rhythmischen Charakter, um mit dem letzten Reimpaar ple_097.010
gleichsam auf der erreichten Höhe zu verweilen und hierdurch einen ple_097.011
beruhigenden Abschluß herbeizuführen. Der Dichter ist dadurch genötigt, ple_097.012
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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/111>, abgerufen am 15.08.2024.
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