Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_087.001 ple_087.023 ple_087.027 ple_087.001 ple_087.023 ple_087.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0101" n="87"/><lb n="ple_087.001"/> innerlich gewendeten Dichtern: bei E. Th. A. Hoffmann z. B. und mit einseitiger <lb n="ple_087.002"/> Schärfe bei E. A. Poe tritt die visuelle Anlage hervor, an Klopstock <lb n="ple_087.003"/> vermißte schon Schiller mit Recht jedes anschauliche Element. <lb n="ple_087.004"/> Bei den größten Dichtern freilich finden wir fast stets einen Ausgleich <lb n="ple_087.005"/> zwischen den Extremen: äußere Anschauung und inneres Leben halten <lb n="ple_087.006"/> sich hier die Wage, und Goethes künstlerischer Wirklichkeitssinn bleibt <lb n="ple_087.007"/> von Klopstocks oder Jean Pauls subjektiver und gefühlsmäßiger Art ungefähr <lb n="ple_087.008"/> ebenso weit entfernt wie von der drastischen Anschaulichkeit Hoffmanns <lb n="ple_087.009"/> oder Poes. Und was vom Dichter, das gilt gleichermaßen auch vom <lb n="ple_087.010"/> Leser. Auch hier hängt es von der Veranlagung des einzelnen ab, ob er <lb n="ple_087.011"/> beim Lesen und Hören mit mehr oder weniger bildlicher Deutlichkeit sieht, <lb n="ple_087.012"/> ob ihm die nachschaffende Phantasie mehr in anschaulichen Bildern oder <lb n="ple_087.013"/> in gefühlsmäßigen Vorstellungen verläuft. Leser von ausgeprägt <hi rendition="#g">visuellen</hi> <lb n="ple_087.014"/> Anlagen sehen eben mehr als andere, die gleichwohl ebenso stark nachfühlen <lb n="ple_087.015"/> und nacherleben, und das Maß von bildlicher Anschauung, das die <lb n="ple_087.016"/> Worte eines Dichters erwecken, ist keineswegs für alle seine Leser das gleiche. <lb n="ple_087.017"/> Jene ausgeprägt visuellen Dichter, von denen oben die Rede war, üben <lb n="ple_087.018"/> freilich eine Art von suggestiver Wirkung auch auf schwächer anschauende <lb n="ple_087.019"/> Leser, aber die Bilder, die sie wachrufen, werden sich vermutlich immerhin <lb n="ple_087.020"/> an Schärfe und Kraft der Einzelzüge sehr verschieden gestalten. Erst durch <lb n="ple_087.021"/> das Zusammentreffen der Eigenart des Dichters mit der des Lesers wird <lb n="ple_087.022"/> die Eigenart der Wirkung völlig bestimmt.</p> <p><lb n="ple_087.023"/> Wenn mithin Th. A. Meyers Lehre vom Verhältnis des Gefühls zur Anschauung <lb n="ple_087.024"/> in der Hauptsache richtig ist, so trägt sie doch den individuellen <lb n="ple_087.025"/> Eigentümlichkeiten des künstlerischen Schaffens und Genießens zu wenig <lb n="ple_087.026"/> Rechnung.</p> <p><lb n="ple_087.027"/> Ganz richtig schildert Meyer das Wesen des sprachlich dichterischen <lb n="ple_087.028"/> Prozesses. Alle schaffende und nachschaffende Phantasie wird durch Bilder <lb n="ple_087.029"/> früherer Anschauungen erfüllt und getragen. Das Anschauungsbild verlischt <lb n="ple_087.030"/> mit der sinnlichen Erscheinung des Angeschauten und wird als Erinnerungsbild <lb n="ple_087.031"/> niemals wieder in vollem Umfang und mit allen einzelnen <lb n="ple_087.032"/> Zügen aufs neue erweckt; nur die hervorragendsten Merkmale werden <lb n="ple_087.033"/> wieder lebendig, diejenigen, „mit deren Vorstellung die Gehaltsempfindung <lb n="ple_087.034"/> am engsten und unmittelbarsten assoziiert wird“. Daher „kann der Dichter <lb n="ple_087.035"/> das im engsten Sinne Individuelle nicht erreichen, aber er bringt es doch <lb n="ple_087.036"/> zu vollständig bestimmten und kräftigen Eindrücken, falls er uns nur <lb n="ple_087.037"/> glücklich an die den Gehalt spiegelnden Züge der Erscheinung zu erinnern <lb n="ple_087.038"/> weiß“. Nun aber dürfen wir nicht übersehen, daß die Schärfe und <lb n="ple_087.039"/> Intensität der Sinneseindrücke und dem entsprechend die Kraft, mit der <lb n="ple_087.040"/> das Gedächtnis sie in den Einzelzügen festhält, bei den verschiedenen <lb n="ple_087.041"/> Menschen sehr verschieden abgestuft ist. Daher gleichen sich die Erinnerungsbilder <lb n="ple_087.042"/> nicht: sie sind bei dem einen abstrakter und blasser, bei <lb n="ple_087.043"/> dem andern frischer und reicher. Gleichwohl — und in diesem entscheidenden </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [87/0101]
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innerlich gewendeten Dichtern: bei E. Th. A. Hoffmann z. B. und mit einseitiger ple_087.002
Schärfe bei E. A. Poe tritt die visuelle Anlage hervor, an Klopstock ple_087.003
vermißte schon Schiller mit Recht jedes anschauliche Element. ple_087.004
Bei den größten Dichtern freilich finden wir fast stets einen Ausgleich ple_087.005
zwischen den Extremen: äußere Anschauung und inneres Leben halten ple_087.006
sich hier die Wage, und Goethes künstlerischer Wirklichkeitssinn bleibt ple_087.007
von Klopstocks oder Jean Pauls subjektiver und gefühlsmäßiger Art ungefähr ple_087.008
ebenso weit entfernt wie von der drastischen Anschaulichkeit Hoffmanns ple_087.009
oder Poes. Und was vom Dichter, das gilt gleichermaßen auch vom ple_087.010
Leser. Auch hier hängt es von der Veranlagung des einzelnen ab, ob er ple_087.011
beim Lesen und Hören mit mehr oder weniger bildlicher Deutlichkeit sieht, ple_087.012
ob ihm die nachschaffende Phantasie mehr in anschaulichen Bildern oder ple_087.013
in gefühlsmäßigen Vorstellungen verläuft. Leser von ausgeprägt visuellen ple_087.014
Anlagen sehen eben mehr als andere, die gleichwohl ebenso stark nachfühlen ple_087.015
und nacherleben, und das Maß von bildlicher Anschauung, das die ple_087.016
Worte eines Dichters erwecken, ist keineswegs für alle seine Leser das gleiche. ple_087.017
Jene ausgeprägt visuellen Dichter, von denen oben die Rede war, üben ple_087.018
freilich eine Art von suggestiver Wirkung auch auf schwächer anschauende ple_087.019
Leser, aber die Bilder, die sie wachrufen, werden sich vermutlich immerhin ple_087.020
an Schärfe und Kraft der Einzelzüge sehr verschieden gestalten. Erst durch ple_087.021
das Zusammentreffen der Eigenart des Dichters mit der des Lesers wird ple_087.022
die Eigenart der Wirkung völlig bestimmt.
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Wenn mithin Th. A. Meyers Lehre vom Verhältnis des Gefühls zur Anschauung ple_087.024
in der Hauptsache richtig ist, so trägt sie doch den individuellen ple_087.025
Eigentümlichkeiten des künstlerischen Schaffens und Genießens zu wenig ple_087.026
Rechnung.
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Ganz richtig schildert Meyer das Wesen des sprachlich dichterischen ple_087.028
Prozesses. Alle schaffende und nachschaffende Phantasie wird durch Bilder ple_087.029
früherer Anschauungen erfüllt und getragen. Das Anschauungsbild verlischt ple_087.030
mit der sinnlichen Erscheinung des Angeschauten und wird als Erinnerungsbild ple_087.031
niemals wieder in vollem Umfang und mit allen einzelnen ple_087.032
Zügen aufs neue erweckt; nur die hervorragendsten Merkmale werden ple_087.033
wieder lebendig, diejenigen, „mit deren Vorstellung die Gehaltsempfindung ple_087.034
am engsten und unmittelbarsten assoziiert wird“. Daher „kann der Dichter ple_087.035
das im engsten Sinne Individuelle nicht erreichen, aber er bringt es doch ple_087.036
zu vollständig bestimmten und kräftigen Eindrücken, falls er uns nur ple_087.037
glücklich an die den Gehalt spiegelnden Züge der Erscheinung zu erinnern ple_087.038
weiß“. Nun aber dürfen wir nicht übersehen, daß die Schärfe und ple_087.039
Intensität der Sinneseindrücke und dem entsprechend die Kraft, mit der ple_087.040
das Gedächtnis sie in den Einzelzügen festhält, bei den verschiedenen ple_087.041
Menschen sehr verschieden abgestuft ist. Daher gleichen sich die Erinnerungsbilder ple_087.042
nicht: sie sind bei dem einen abstrakter und blasser, bei ple_087.043
dem andern frischer und reicher. Gleichwohl — und in diesem entscheidenden
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