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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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X. Abschnitt. I. Fragment.

Findest du einen Menschen, der, wenn er etwas von seiner Stelle nimmt, oder trägt, oder jemandem
was anbietet, ohne Zwang und Aengstlichkeit seine Augen fleißig auf dasselbe richtet -- -- so hast du einen
studierenswürdigsten Menschen gefunden. Oft entscheiden Kleinigkeiten für den Charakter des Menschen. Eine
für mich oft entscheidende Kleinigkeit dieser Art ist die Weise, wie eine Theeschale in die Hand kömmt, darinn
sich hält, und daher wieder an ihren Ort zurückkehrt. Jch möchte sagen: wer eines der geringsten Dinge mit
ganzem Bedacht kann -- kann unzählig viel größere.

17.

Wenn du in einem Gesichte folgende Züge, jeden besonders -- gut und entscheidend, und alle zusam-
men in gehörigem Verhältnisse findest, so sey sicher, ein beynahe übermenschliches Gesicht gesunden zu haben.

a) Auffallende Gleichheit der drey gewöhnlichen Gesichtsabtheilungen -- der Stirn, der Nase, des
Kinns.
b) Eine horizontal sich endigende Stirn; mithin beynahe horizontale, kecke, gedrängte Augenbraunen.
c) Augen von hellblauer, oder hellbrauner Farbe, die auf wenige Schritte schwarz scheinen, und de-
ren obere Augenlieder den Apfel etwa um einen Fünftheil oder Viertheil bedecken.
d) Eine Nase mit einem breiten, beynahe parallelen, jedoch etwas geschweiften Rücken.
e) Einen im Ganzen horizontalen Mund, wo die Oberlippe und die Mittellinie in der Mitte sich sanft,
doch etwas tief, niedersenken -- und die Unterlippe nicht größer ist als die Oberlippe.
f) Ein rundes vorstehendes Kinn.
g) Kurze dunkelbraune Haare, kraus in großen Partheyen.
18.

Um ein Gesicht vollkommen beobachten zu können, muß man's im Profil, ganz vornen, drey Quart,
sieben Achtel, und von oben herab ansehen; vors erste die Augen sich schließen und geschlossen halten lassen, dann
sich öffnen; -- das ganze Gesicht zeigt auf einmal für den eigentlichen Beobachter zu viel. Daher muß er es von
jeder Seite besonders betrachten.

19.

Jn Ansehung des Zeichnens nach der Natur, nach Büsten, nach Gemählden und Kupferstichen, oder
wornach es immer seyn mag, ist mein bestimmter dringender Rath, den ich jedem Physiognomen gebe, immer
nur unschattirte Umrisse zu zeichnen,
um in der ihm schlechterdings nöthigen Fertigkeit Meister zu werden --
alle Verworrenheit, alle Zusammenschmelzungen, Jneinanderfließungen, scheinbare Unbestimmtheiten bestim-
men zu lernen, herausheben zu lernen, sie sich einzeln imaginiren, einzeln mittheilen zu lernen. -- Alle Mahler,

die
X. Abſchnitt. I. Fragment.

Findeſt du einen Menſchen, der, wenn er etwas von ſeiner Stelle nimmt, oder traͤgt, oder jemandem
was anbietet, ohne Zwang und Aengſtlichkeit ſeine Augen fleißig auf daſſelbe richtet — — ſo haſt du einen
ſtudierenswuͤrdigſten Menſchen gefunden. Oft entſcheiden Kleinigkeiten fuͤr den Charakter des Menſchen. Eine
fuͤr mich oft entſcheidende Kleinigkeit dieſer Art iſt die Weiſe, wie eine Theeſchale in die Hand koͤmmt, darinn
ſich haͤlt, und daher wieder an ihren Ort zuruͤckkehrt. Jch moͤchte ſagen: wer eines der geringſten Dinge mit
ganzem Bedacht kann — kann unzaͤhlig viel groͤßere.

17.

Wenn du in einem Geſichte folgende Zuͤge, jeden beſonders — gut und entſcheidend, und alle zuſam-
men in gehoͤrigem Verhaͤltniſſe findeſt, ſo ſey ſicher, ein beynahe uͤbermenſchliches Geſicht geſunden zu haben.

a) Auffallende Gleichheit der drey gewoͤhnlichen Geſichtsabtheilungen — der Stirn, der Naſe, des
Kinns.
b) Eine horizontal ſich endigende Stirn; mithin beynahe horizontale, kecke, gedraͤngte Augenbraunen.
c) Augen von hellblauer, oder hellbrauner Farbe, die auf wenige Schritte ſchwarz ſcheinen, und de-
ren obere Augenlieder den Apfel etwa um einen Fuͤnftheil oder Viertheil bedecken.
d) Eine Naſe mit einem breiten, beynahe parallelen, jedoch etwas geſchweiften Ruͤcken.
e) Einen im Ganzen horizontalen Mund, wo die Oberlippe und die Mittellinie in der Mitte ſich ſanft,
doch etwas tief, niederſenken — und die Unterlippe nicht groͤßer iſt als die Oberlippe.
f) Ein rundes vorſtehendes Kinn.
g) Kurze dunkelbraune Haare, kraus in großen Partheyen.
18.

Um ein Geſicht vollkommen beobachten zu koͤnnen, muß man’s im Profil, ganz vornen, drey Quart,
ſieben Achtel, und von oben herab anſehen; vors erſte die Augen ſich ſchließen und geſchloſſen halten laſſen, dann
ſich oͤffnen; — das ganze Geſicht zeigt auf einmal fuͤr den eigentlichen Beobachter zu viel. Daher muß er es von
jeder Seite beſonders betrachten.

19.

Jn Anſehung des Zeichnens nach der Natur, nach Buͤſten, nach Gemaͤhlden und Kupferſtichen, oder
wornach es immer ſeyn mag, iſt mein beſtimmter dringender Rath, den ich jedem Phyſiognomen gebe, immer
nur unſchattirte Umriſſe zu zeichnen,
um in der ihm ſchlechterdings noͤthigen Fertigkeit Meiſter zu werden —
alle Verworrenheit, alle Zuſammenſchmelzungen, Jneinanderfließungen, ſcheinbare Unbeſtimmtheiten beſtim-
men zu lernen, herausheben zu lernen, ſie ſich einzeln imaginiren, einzeln mittheilen zu lernen. — Alle Mahler,

die
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[464/0608] X. Abſchnitt. I. Fragment. Findeſt du einen Menſchen, der, wenn er etwas von ſeiner Stelle nimmt, oder traͤgt, oder jemandem was anbietet, ohne Zwang und Aengſtlichkeit ſeine Augen fleißig auf daſſelbe richtet — — ſo haſt du einen ſtudierenswuͤrdigſten Menſchen gefunden. Oft entſcheiden Kleinigkeiten fuͤr den Charakter des Menſchen. Eine fuͤr mich oft entſcheidende Kleinigkeit dieſer Art iſt die Weiſe, wie eine Theeſchale in die Hand koͤmmt, darinn ſich haͤlt, und daher wieder an ihren Ort zuruͤckkehrt. Jch moͤchte ſagen: wer eines der geringſten Dinge mit ganzem Bedacht kann — kann unzaͤhlig viel groͤßere. 17. Wenn du in einem Geſichte folgende Zuͤge, jeden beſonders — gut und entſcheidend, und alle zuſam- men in gehoͤrigem Verhaͤltniſſe findeſt, ſo ſey ſicher, ein beynahe uͤbermenſchliches Geſicht geſunden zu haben. a) Auffallende Gleichheit der drey gewoͤhnlichen Geſichtsabtheilungen — der Stirn, der Naſe, des Kinns. b) Eine horizontal ſich endigende Stirn; mithin beynahe horizontale, kecke, gedraͤngte Augenbraunen. c) Augen von hellblauer, oder hellbrauner Farbe, die auf wenige Schritte ſchwarz ſcheinen, und de- ren obere Augenlieder den Apfel etwa um einen Fuͤnftheil oder Viertheil bedecken. d) Eine Naſe mit einem breiten, beynahe parallelen, jedoch etwas geſchweiften Ruͤcken. e) Einen im Ganzen horizontalen Mund, wo die Oberlippe und die Mittellinie in der Mitte ſich ſanft, doch etwas tief, niederſenken — und die Unterlippe nicht groͤßer iſt als die Oberlippe. f) Ein rundes vorſtehendes Kinn. g) Kurze dunkelbraune Haare, kraus in großen Partheyen. 18. Um ein Geſicht vollkommen beobachten zu koͤnnen, muß man’s im Profil, ganz vornen, drey Quart, ſieben Achtel, und von oben herab anſehen; vors erſte die Augen ſich ſchließen und geſchloſſen halten laſſen, dann ſich oͤffnen; — das ganze Geſicht zeigt auf einmal fuͤr den eigentlichen Beobachter zu viel. Daher muß er es von jeder Seite beſonders betrachten. 19. Jn Anſehung des Zeichnens nach der Natur, nach Buͤſten, nach Gemaͤhlden und Kupferſtichen, oder wornach es immer ſeyn mag, iſt mein beſtimmter dringender Rath, den ich jedem Phyſiognomen gebe, immer nur unſchattirte Umriſſe zu zeichnen, um in der ihm ſchlechterdings noͤthigen Fertigkeit Meiſter zu werden — alle Verworrenheit, alle Zuſammenſchmelzungen, Jneinanderfließungen, ſcheinbare Unbeſtimmtheiten beſtim- men zu lernen, herausheben zu lernen, ſie ſich einzeln imaginiren, einzeln mittheilen zu lernen. — Alle Mahler, die

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/608>, abgerufen am 24.11.2024.