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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber das Studium der Physiognomik.

Der Moment des Mitleids und der Rührung. Der Moment des Weinens und des Zorns; des nei-
dischen und des freundschaftlichen Eifers. Ueberhaupt der Augenblick der höchsten Ruhe und der höchsten Leiden-
schaft, der Moment, wo der Mensch ganz in und ganz außer seinem Elemente arbeitet! Beyde zugleich, beyde
verglichen zeigen dem Physiognomen, was der Mensch ist, und nicht ist, seyn, und nicht seyn kann.

14.

Erforsche, Menschenforscher, die Superiorität eines Menschengesichtes über das andere. Obgleich der
Vater aller alles Geschlecht der Menschen aus Einem Blute gemacht, so ist dennoch die natürliche Gleichheit der
Menschen eines der unverzeihlichsten Vorurtheile eines Gutherzigkeit affektirenden, höchst kalten Enthusiasmus.
Nein, Herr ist einer des andern nach Gottes Absicht.

Ein jeder begeisterter und unbegeisterter Körper herrscht über Millionen und ist unter Millionen unter-
than; er muß herrschen; er muß unterthan seyn. Seine Natur treibt und nöthigt ihn zu beyden. Suche also
die anerschaffene, göttliche, unverlehnbare, durch keine Uebereinkunft von uns selbst trennbare Superiorität und
Jnseriorität eines jeden organischen Körpers zu erkennen, und seine Gränzlinien genau zu bestimmen und zu ver-
gleichen. Vergleiche immer das Stärkste, was dir bekannt ist, mit dem Schwächsten. Ein Dutzend Umrisse
von übermächtigen -- und ein Dutzend weicher, nachgebender, unterwürfiger -- hast du die Extreme richtig
gefunden, muß ich wieder sagen, die mittlern Verhältnisse wirst du dann leicht finden. -- Nicht vorentscheidend
genug kann ichs sagen -- Suche, so wirst du finden das geometrisch bestimmbare Verhältniß der gebietenden und
der gehorchenden Stirne! der königlichen und der sclavischen Nase!

15.

Der Eine Hauptpunkt deiner Untersuchung sey immer: Aehnliche Gesichter, ähnliche Charakter?
und der andere -- ähnliche Stirnen, ähnliche Gesichter? Gesichtsformen wenigstens? Stelle also im-
mer, so viel du kannst, ähnliche Menschen, ähnliche Schädel, ähnliche Gesichtsformen, ähnliche
Stirnen, ähnliche Züge
zusammen, und frage -- und vergleiche!

16.

Wenn du einen Menschen findest, der die seltenste aller seltenen Gaben hat, die Gabe unaffektirten
Theilnehmens, prüfender Aufmerksamkeit; der nie antwortet, eh er die Rede vernimmt; entschieden ist und sel-
ten entscheidet -- so studiere dieses Menschengesicht, und alle seine kleinsten Züge durch und durch -- nach dem
Grade der Aufmerksamkeit bestimmt sich Verstand, Güte und Kraft des Menschen. Wer nicht hören
kann, kann nichts, was den Namen wahrer Weisheit und Tugend verdiente. Wer hören kann, kann al-
les, was Menschen können sollen.
Der aufmerksamen Menschen Gesicht wird allein dir ein Alphabet lie-
fern zur Entzieferung der besten Eigenschaften unzähliger Menschen.

Findest
Ueber das Studium der Phyſiognomik.

Der Moment des Mitleids und der Ruͤhrung. Der Moment des Weinens und des Zorns; des nei-
diſchen und des freundſchaftlichen Eifers. Ueberhaupt der Augenblick der hoͤchſten Ruhe und der hoͤchſten Leiden-
ſchaft, der Moment, wo der Menſch ganz in und ganz außer ſeinem Elemente arbeitet! Beyde zugleich, beyde
verglichen zeigen dem Phyſiognomen, was der Menſch iſt, und nicht iſt, ſeyn, und nicht ſeyn kann.

14.

Erforſche, Menſchenforſcher, die Superioritaͤt eines Menſchengeſichtes uͤber das andere. Obgleich der
Vater aller alles Geſchlecht der Menſchen aus Einem Blute gemacht, ſo iſt dennoch die natuͤrliche Gleichheit der
Menſchen eines der unverzeihlichſten Vorurtheile eines Gutherzigkeit affektirenden, hoͤchſt kalten Enthuſiasmus.
Nein, Herr iſt einer des andern nach Gottes Abſicht.

Ein jeder begeiſterter und unbegeiſterter Koͤrper herrſcht uͤber Millionen und iſt unter Millionen unter-
than; er muß herrſchen; er muß unterthan ſeyn. Seine Natur treibt und noͤthigt ihn zu beyden. Suche alſo
die anerſchaffene, goͤttliche, unverlehnbare, durch keine Uebereinkunft von uns ſelbſt trennbare Superioritaͤt und
Jnſerioritaͤt eines jeden organiſchen Koͤrpers zu erkennen, und ſeine Graͤnzlinien genau zu beſtimmen und zu ver-
gleichen. Vergleiche immer das Staͤrkſte, was dir bekannt iſt, mit dem Schwaͤchſten. Ein Dutzend Umriſſe
von uͤbermaͤchtigen — und ein Dutzend weicher, nachgebender, unterwuͤrfiger — haſt du die Extreme richtig
gefunden, muß ich wieder ſagen, die mittlern Verhaͤltniſſe wirſt du dann leicht finden. — Nicht vorentſcheidend
genug kann ichs ſagen — Suche, ſo wirſt du finden das geometriſch beſtimmbare Verhaͤltniß der gebietenden und
der gehorchenden Stirne! der koͤniglichen und der ſclaviſchen Naſe!

15.

Der Eine Hauptpunkt deiner Unterſuchung ſey immer: Aehnliche Geſichter, aͤhnliche Charakter?
und der andere — aͤhnliche Stirnen, aͤhnliche Geſichter? Geſichtsformen wenigſtens? Stelle alſo im-
mer, ſo viel du kannſt, aͤhnliche Menſchen, aͤhnliche Schaͤdel, aͤhnliche Geſichtsformen, aͤhnliche
Stirnen, aͤhnliche Zuͤge
zuſammen, und frage — und vergleiche!

16.

Wenn du einen Menſchen findeſt, der die ſeltenſte aller ſeltenen Gaben hat, die Gabe unaffektirten
Theilnehmens, pruͤfender Aufmerkſamkeit; der nie antwortet, eh er die Rede vernimmt; entſchieden iſt und ſel-
ten entſcheidet — ſo ſtudiere dieſes Menſchengeſicht, und alle ſeine kleinſten Zuͤge durch und durch — nach dem
Grade der Aufmerkſamkeit beſtimmt ſich Verſtand, Guͤte und Kraft des Menſchen. Wer nicht hoͤren
kann, kann nichts, was den Namen wahrer Weisheit und Tugend verdiente. Wer hoͤren kann, kann al-
les, was Menſchen koͤnnen ſollen.
Der aufmerkſamen Menſchen Geſicht wird allein dir ein Alphabet lie-
fern zur Entzieferung der beſten Eigenſchaften unzaͤhliger Menſchen.

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[463/0607] Ueber das Studium der Phyſiognomik. Der Moment des Mitleids und der Ruͤhrung. Der Moment des Weinens und des Zorns; des nei- diſchen und des freundſchaftlichen Eifers. Ueberhaupt der Augenblick der hoͤchſten Ruhe und der hoͤchſten Leiden- ſchaft, der Moment, wo der Menſch ganz in und ganz außer ſeinem Elemente arbeitet! Beyde zugleich, beyde verglichen zeigen dem Phyſiognomen, was der Menſch iſt, und nicht iſt, ſeyn, und nicht ſeyn kann. 14. Erforſche, Menſchenforſcher, die Superioritaͤt eines Menſchengeſichtes uͤber das andere. Obgleich der Vater aller alles Geſchlecht der Menſchen aus Einem Blute gemacht, ſo iſt dennoch die natuͤrliche Gleichheit der Menſchen eines der unverzeihlichſten Vorurtheile eines Gutherzigkeit affektirenden, hoͤchſt kalten Enthuſiasmus. Nein, Herr iſt einer des andern nach Gottes Abſicht. Ein jeder begeiſterter und unbegeiſterter Koͤrper herrſcht uͤber Millionen und iſt unter Millionen unter- than; er muß herrſchen; er muß unterthan ſeyn. Seine Natur treibt und noͤthigt ihn zu beyden. Suche alſo die anerſchaffene, goͤttliche, unverlehnbare, durch keine Uebereinkunft von uns ſelbſt trennbare Superioritaͤt und Jnſerioritaͤt eines jeden organiſchen Koͤrpers zu erkennen, und ſeine Graͤnzlinien genau zu beſtimmen und zu ver- gleichen. Vergleiche immer das Staͤrkſte, was dir bekannt iſt, mit dem Schwaͤchſten. Ein Dutzend Umriſſe von uͤbermaͤchtigen — und ein Dutzend weicher, nachgebender, unterwuͤrfiger — haſt du die Extreme richtig gefunden, muß ich wieder ſagen, die mittlern Verhaͤltniſſe wirſt du dann leicht finden. — Nicht vorentſcheidend genug kann ichs ſagen — Suche, ſo wirſt du finden das geometriſch beſtimmbare Verhaͤltniß der gebietenden und der gehorchenden Stirne! der koͤniglichen und der ſclaviſchen Naſe! 15. Der Eine Hauptpunkt deiner Unterſuchung ſey immer: Aehnliche Geſichter, aͤhnliche Charakter? und der andere — aͤhnliche Stirnen, aͤhnliche Geſichter? Geſichtsformen wenigſtens? Stelle alſo im- mer, ſo viel du kannſt, aͤhnliche Menſchen, aͤhnliche Schaͤdel, aͤhnliche Geſichtsformen, aͤhnliche Stirnen, aͤhnliche Zuͤge zuſammen, und frage — und vergleiche! 16. Wenn du einen Menſchen findeſt, der die ſeltenſte aller ſeltenen Gaben hat, die Gabe unaffektirten Theilnehmens, pruͤfender Aufmerkſamkeit; der nie antwortet, eh er die Rede vernimmt; entſchieden iſt und ſel- ten entſcheidet — ſo ſtudiere dieſes Menſchengeſicht, und alle ſeine kleinſten Zuͤge durch und durch — nach dem Grade der Aufmerkſamkeit beſtimmt ſich Verſtand, Guͤte und Kraft des Menſchen. Wer nicht hoͤren kann, kann nichts, was den Namen wahrer Weisheit und Tugend verdiente. Wer hoͤren kann, kann al- les, was Menſchen koͤnnen ſollen. Der aufmerkſamen Menſchen Geſicht wird allein dir ein Alphabet lie- fern zur Entzieferung der beſten Eigenſchaften unzaͤhliger Menſchen. Findeſt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/607>, abgerufen am 24.11.2024.