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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Anmerkungen zu einer physiognomischen Abhandlung.
von beyden macht? Und dann, weiser Mann! hellsehender Menschenbeobachter! getrauten sie sich,
es mir, unter vier Augen mündlich zu behaupten -- "Die Peitschenschläge des Schicksals verwan-
"deln gemeiniglich eine kluge rundgewölbte Stirn in eine cylindrische; eine länglichte in eine gevier-
"te; blaue Augen in schwarze; ein Spitzkinn in ein zurückgehendes?" -- Wer, wer kann im Ernste
glauben und behaupten -- Carl der XII. Heinrich der IV. Carl der V. Männer, die doch
wohl Peitschenschläge des Schicksals, wenn sie ein Sterblicher erfahren hat, erfahren haben -- be-
kamen dadurch andere Gesichtsformen; (wir reden von den festen Theilen, und reden nicht von
Schwerdthieben) Gesichtsformen, die einen andern Charakter anzeigen, als die anzeigten, die sie vor
diesen Schlägen hatten? -- Und wohin würde man den weisen, der behauptete: "Das vollkräftige
"Nasenbein Carls des XII. hätte zu Bender, und Heinrichs des IV. hätte vor Ravaillak
"seine Convexität verlieren, und sich in ein jungfräuliches Spitznäschen demüthigen können?" Die
Natur, meine Leser! wirkt auf die Knochen von innen heraus -- Zufall und Leiden auf Nerven,
Fleisch und Haut -- und wenn ein Zufall die Knochen angreift -- wer ist blind genug, das phy-
sisch Gewaltthätige dann nicht zu bemerken? Entweder sind diese Peitschenschläge stark oder
schwach -- Sind sie schwach, so ist die Natur stärker, vordringender, vertilgt sie -- Sind sie stark,
so sind sie als Peitschenschläge sichtbar, und warnen hiemit durch ihre Stärke und Sichtbarkeit den
Physiognomen genug, sie nicht für Züge der Natur zu halten; den Physiognomen, das ist, den
unbefangenen Beobachter. Denn der ist allein Physiognom, und der allein hat das Recht zu ent-
scheiden, und nicht der Witzler, der alle Erfahrungen mit verschloßnem Blicke vorübergeht.

"Sind die Fehler, (Seite 6.) die ich in einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des Künst-
"lers, oder nicht auch Wirkungen ungeschickter Betaster, der Sonnenhitze, oder einer warmen
"Stube!

Lieber Wahrheitsfreund -- sogar an einem Wachsbilde ist nichts leichter zu bemerken, als
die erste Arbeit der Meisterhand -- wenn sie auch durch unreinliches Betasten, zufällige Abstümpfung
und Verschmelzung -- einigermaßen verdorben worden. Gerade dieß Beyspiel zeugt wider Sie.
Wenn sogar am Wachsbilde das Zufällige leicht sich unterscheiden läßt, wo doch die Grundarbeit
des Meisters auch nicht fest ist -- wie viel mehr das Zufällige an einem organischen Körper, dessen
Grundzeichnung so fest ist? -- An jeder Statue -- (das Bild wäre, dünkt mich, noch treffender ge-

wesen,

Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung.
von beyden macht? Und dann, weiſer Mann! hellſehender Menſchenbeobachter! getrauten ſie ſich,
es mir, unter vier Augen muͤndlich zu behaupten — „Die Peitſchenſchlaͤge des Schickſals verwan-
„deln gemeiniglich eine kluge rundgewoͤlbte Stirn in eine cylindriſche; eine laͤnglichte in eine gevier-
„te; blaue Augen in ſchwarze; ein Spitzkinn in ein zuruͤckgehendes?“ — Wer, wer kann im Ernſte
glauben und behaupten — Carl der XII. Heinrich der IV. Carl der V. Maͤnner, die doch
wohl Peitſchenſchlaͤge des Schickſals, wenn ſie ein Sterblicher erfahren hat, erfahren haben — be-
kamen dadurch andere Geſichtsformen; (wir reden von den feſten Theilen, und reden nicht von
Schwerdthieben) Geſichtsformen, die einen andern Charakter anzeigen, als die anzeigten, die ſie vor
dieſen Schlaͤgen hatten? — Und wohin wuͤrde man den weiſen, der behauptete: „Das vollkraͤftige
„Naſenbein Carls des XII. haͤtte zu Bender, und Heinrichs des IV. haͤtte vor Ravaillak
„ſeine Convexitaͤt verlieren, und ſich in ein jungfraͤuliches Spitznaͤschen demuͤthigen koͤnnen?“ Die
Natur, meine Leſer! wirkt auf die Knochen von innen heraus — Zufall und Leiden auf Nerven,
Fleiſch und Haut — und wenn ein Zufall die Knochen angreift — wer iſt blind genug, das phy-
ſiſch Gewaltthaͤtige dann nicht zu bemerken? Entweder ſind dieſe Peitſchenſchlaͤge ſtark oder
ſchwach — Sind ſie ſchwach, ſo iſt die Natur ſtaͤrker, vordringender, vertilgt ſie — Sind ſie ſtark,
ſo ſind ſie als Peitſchenſchlaͤge ſichtbar, und warnen hiemit durch ihre Staͤrke und Sichtbarkeit den
Phyſiognomen genug, ſie nicht fuͤr Zuͤge der Natur zu halten; den Phyſiognomen, das iſt, den
unbefangenen Beobachter. Denn der iſt allein Phyſiognom, und der allein hat das Recht zu ent-
ſcheiden, und nicht der Witzler, der alle Erfahrungen mit verſchloßnem Blicke voruͤbergeht.

„Sind die Fehler, (Seite 6.) die ich in einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des Kuͤnſt-
„lers, oder nicht auch Wirkungen ungeſchickter Betaſter, der Sonnenhitze, oder einer warmen
„Stube!

Lieber Wahrheitsfreund — ſogar an einem Wachsbilde iſt nichts leichter zu bemerken, als
die erſte Arbeit der Meiſterhand — wenn ſie auch durch unreinliches Betaſten, zufaͤllige Abſtuͤmpfung
und Verſchmelzung — einigermaßen verdorben worden. Gerade dieß Beyſpiel zeugt wider Sie.
Wenn ſogar am Wachsbilde das Zufaͤllige leicht ſich unterſcheiden laͤßt, wo doch die Grundarbeit
des Meiſters auch nicht feſt iſt — wie viel mehr das Zufaͤllige an einem organiſchen Koͤrper, deſſen
Grundzeichnung ſo feſt iſt? — An jeder Statue — (das Bild waͤre, duͤnkt mich, noch treffender ge-

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[31/0053] Anmerkungen zu einer phyſiognomiſchen Abhandlung. von beyden macht? Und dann, weiſer Mann! hellſehender Menſchenbeobachter! getrauten ſie ſich, es mir, unter vier Augen muͤndlich zu behaupten — „Die Peitſchenſchlaͤge des Schickſals verwan- „deln gemeiniglich eine kluge rundgewoͤlbte Stirn in eine cylindriſche; eine laͤnglichte in eine gevier- „te; blaue Augen in ſchwarze; ein Spitzkinn in ein zuruͤckgehendes?“ — Wer, wer kann im Ernſte glauben und behaupten — Carl der XII. Heinrich der IV. Carl der V. Maͤnner, die doch wohl Peitſchenſchlaͤge des Schickſals, wenn ſie ein Sterblicher erfahren hat, erfahren haben — be- kamen dadurch andere Geſichtsformen; (wir reden von den feſten Theilen, und reden nicht von Schwerdthieben) Geſichtsformen, die einen andern Charakter anzeigen, als die anzeigten, die ſie vor dieſen Schlaͤgen hatten? — Und wohin wuͤrde man den weiſen, der behauptete: „Das vollkraͤftige „Naſenbein Carls des XII. haͤtte zu Bender, und Heinrichs des IV. haͤtte vor Ravaillak „ſeine Convexitaͤt verlieren, und ſich in ein jungfraͤuliches Spitznaͤschen demuͤthigen koͤnnen?“ Die Natur, meine Leſer! wirkt auf die Knochen von innen heraus — Zufall und Leiden auf Nerven, Fleiſch und Haut — und wenn ein Zufall die Knochen angreift — wer iſt blind genug, das phy- ſiſch Gewaltthaͤtige dann nicht zu bemerken? Entweder ſind dieſe Peitſchenſchlaͤge ſtark oder ſchwach — Sind ſie ſchwach, ſo iſt die Natur ſtaͤrker, vordringender, vertilgt ſie — Sind ſie ſtark, ſo ſind ſie als Peitſchenſchlaͤge ſichtbar, und warnen hiemit durch ihre Staͤrke und Sichtbarkeit den Phyſiognomen genug, ſie nicht fuͤr Zuͤge der Natur zu halten; den Phyſiognomen, das iſt, den unbefangenen Beobachter. Denn der iſt allein Phyſiognom, und der allein hat das Recht zu ent- ſcheiden, und nicht der Witzler, der alle Erfahrungen mit verſchloßnem Blicke voruͤbergeht. „Sind die Fehler, (Seite 6.) die ich in einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des Kuͤnſt- „lers, oder nicht auch Wirkungen ungeſchickter Betaſter, der Sonnenhitze, oder einer warmen „Stube! Lieber Wahrheitsfreund — ſogar an einem Wachsbilde iſt nichts leichter zu bemerken, als die erſte Arbeit der Meiſterhand — wenn ſie auch durch unreinliches Betaſten, zufaͤllige Abſtuͤmpfung und Verſchmelzung — einigermaßen verdorben worden. Gerade dieß Beyſpiel zeugt wider Sie. Wenn ſogar am Wachsbilde das Zufaͤllige leicht ſich unterſcheiden laͤßt, wo doch die Grundarbeit des Meiſters auch nicht feſt iſt — wie viel mehr das Zufaͤllige an einem organiſchen Koͤrper, deſſen Grundzeichnung ſo feſt iſt? — An jeder Statue — (das Bild waͤre, duͤnkt mich, noch treffender ge- weſen,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/53>, abgerufen am 28.11.2024.