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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
"schiedenen Graden und Mischungen, verschiedene Gesichtsformen hervorbringen, so wie verschiede-
"ne Salze in verschiedenen Formen anschießen, wenn sie nicht gestört werden. Allein, gehört denn
"unser Körper der Seele allein zu? Oder ist er nicht ein gemeinschaftliches Glied sich in ihm durch-
"kreuzender Reihen, deren jeder Gesetz er befolgen, und deren jeder er Genüge leisten muß? So
"hat jede einfache Steinart, im reinsten Zustande, ihre eigene Form; allein die Anomalien, die die
"Verbindung mit andern hervorbringt, und die Zufälle, denen sie ausgesetzt sind, macht, daß sich
"auch oft der Geübteste irrt, der sie nach dem Gesicht unterscheiden will." -- Welche Vergleichung!
Salze und Steinarten -- mit einem von innen aus belebten organischen Körper! -- Ein in dem
tausendsten Theil eines Wassertropfens augenblicklich zerfließender Salzwürfel -- und ein
allen Anfällen der Witterung, und Millionen Eindrücken von außen Jahre und Jahrhunderte lang
Trutz bietender Schädel -- Philosophie! erröthest du nicht bey dieser unbegreiflichen Verglei-
chung? -- Nicht allein Menschenorganisationen -- nicht allein Menschenschädel -- nicht allein
Thiere -- nur Pflanzen, die doch ohne solche innere Resistenz, ohne solche Reßorts, wie sich in dem
Menschen befinden -- Millionen sich kreuzenden Drücken des Lichtes, der Luft u. s. f. ausgesetzt
sind -- welche verwandelt sich dadurch in eine andere Gestalt? welche wird unkenntlich dadurch
für den Kenner? die allergewaltsamsten Zufälle können sie kaum unkenntlich machen -- so lange sie
noch ihren Organismus behalten?

(Seite 6.) "So steht unser Körper zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte,
"Spiegel der Wirkungen von beyden," -- (vortrefflich gesagt!) "erzählt nicht allein unsere Neigun-
"gen und Fähigkeiten," -- (also erzählt er sie doch -- und wer sagt, daß es diese allein erzähle?) --
"sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Clima, Krankheit, Nahrung, und tausend Un-
"gemach, dem uns nicht immer unser eigener böser Entschluß, sondern oft Zufall, und oft Pflicht
"aussetzen." -- Wer läugnet dieß? kann's läugnen? aber hebt eins das andere auf? das ist die
Frage hier, sonst nichts! Sagt unser Verfasser nicht selbst: "Körper ist Spiegel der Wirkungen
"von beyden?" -- Also nicht nur von den "Peitschenschlägen des Schicksals?" -- Warum
nicht eben sowohl von der innern Energie, oder Nichtenergie der Seele? Worüber streiten wir?
Hat's nicht, (vorausgesetzt, daß der Verfasser nicht im Scherze spreche!) den Schein wenigstens ei-
ner Zänklerey -- wenn man itzt eins wider das andere setzt? und doch den Körper zum Spiegel

von

I. Abſchnitt. I. Fragment.
„ſchiedenen Graden und Miſchungen, verſchiedene Geſichtsformen hervorbringen, ſo wie verſchiede-
„ne Salze in verſchiedenen Formen anſchießen, wenn ſie nicht geſtoͤrt werden. Allein, gehoͤrt denn
„unſer Koͤrper der Seele allein zu? Oder iſt er nicht ein gemeinſchaftliches Glied ſich in ihm durch-
„kreuzender Reihen, deren jeder Geſetz er befolgen, und deren jeder er Genuͤge leiſten muß? So
„hat jede einfache Steinart, im reinſten Zuſtande, ihre eigene Form; allein die Anomalien, die die
„Verbindung mit andern hervorbringt, und die Zufaͤlle, denen ſie ausgeſetzt ſind, macht, daß ſich
„auch oft der Geuͤbteſte irrt, der ſie nach dem Geſicht unterſcheiden will.“ — Welche Vergleichung!
Salze und Steinarten — mit einem von innen aus belebten organiſchen Koͤrper! — Ein in dem
tauſendſten Theil eines Waſſertropfens augenblicklich zerfließender Salzwuͤrfel — und ein
allen Anfaͤllen der Witterung, und Millionen Eindruͤcken von außen Jahre und Jahrhunderte lang
Trutz bietender Schaͤdel — Philoſophie! erroͤtheſt du nicht bey dieſer unbegreiflichen Verglei-
chung? — Nicht allein Menſchenorganiſationen — nicht allein Menſchenſchaͤdel — nicht allein
Thiere — nur Pflanzen, die doch ohne ſolche innere Reſiſtenz, ohne ſolche Reßorts, wie ſich in dem
Menſchen befinden — Millionen ſich kreuzenden Druͤcken des Lichtes, der Luft u. ſ. f. ausgeſetzt
ſind — welche verwandelt ſich dadurch in eine andere Geſtalt? welche wird unkenntlich dadurch
fuͤr den Kenner? die allergewaltſamſten Zufaͤlle koͤnnen ſie kaum unkenntlich machen — ſo lange ſie
noch ihren Organismus behalten?

(Seite 6.) „So ſteht unſer Koͤrper zwiſchen Seele und der uͤbrigen Welt in der Mitte,
„Spiegel der Wirkungen von beyden,“ — (vortrefflich geſagt!) „erzaͤhlt nicht allein unſere Neigun-
„gen und Faͤhigkeiten,“ — (alſo erzaͤhlt er ſie doch — und wer ſagt, daß es dieſe allein erzaͤhle?) —
„ſondern auch die Peitſchenſchlaͤge des Schickſals, Clima, Krankheit, Nahrung, und tauſend Un-
„gemach, dem uns nicht immer unſer eigener boͤſer Entſchluß, ſondern oft Zufall, und oft Pflicht
„ausſetzen.“ — Wer laͤugnet dieß? kann’s laͤugnen? aber hebt eins das andere auf? das iſt die
Frage hier, ſonſt nichts! Sagt unſer Verfaſſer nicht ſelbſt: „Koͤrper iſt Spiegel der Wirkungen
„von beyden?“ — Alſo nicht nur von den „Peitſchenſchlaͤgen des Schickſals?“ — Warum
nicht eben ſowohl von der innern Energie, oder Nichtenergie der Seele? Woruͤber ſtreiten wir?
Hat’s nicht, (vorausgeſetzt, daß der Verfaſſer nicht im Scherze ſpreche!) den Schein wenigſtens ei-
ner Zaͤnklerey — wenn man itzt eins wider das andere ſetzt? und doch den Koͤrper zum Spiegel

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[30/0052] I. Abſchnitt. I. Fragment. „ſchiedenen Graden und Miſchungen, verſchiedene Geſichtsformen hervorbringen, ſo wie verſchiede- „ne Salze in verſchiedenen Formen anſchießen, wenn ſie nicht geſtoͤrt werden. Allein, gehoͤrt denn „unſer Koͤrper der Seele allein zu? Oder iſt er nicht ein gemeinſchaftliches Glied ſich in ihm durch- „kreuzender Reihen, deren jeder Geſetz er befolgen, und deren jeder er Genuͤge leiſten muß? So „hat jede einfache Steinart, im reinſten Zuſtande, ihre eigene Form; allein die Anomalien, die die „Verbindung mit andern hervorbringt, und die Zufaͤlle, denen ſie ausgeſetzt ſind, macht, daß ſich „auch oft der Geuͤbteſte irrt, der ſie nach dem Geſicht unterſcheiden will.“ — Welche Vergleichung! Salze und Steinarten — mit einem von innen aus belebten organiſchen Koͤrper! — Ein in dem tauſendſten Theil eines Waſſertropfens augenblicklich zerfließender Salzwuͤrfel — und ein allen Anfaͤllen der Witterung, und Millionen Eindruͤcken von außen Jahre und Jahrhunderte lang Trutz bietender Schaͤdel — Philoſophie! erroͤtheſt du nicht bey dieſer unbegreiflichen Verglei- chung? — Nicht allein Menſchenorganiſationen — nicht allein Menſchenſchaͤdel — nicht allein Thiere — nur Pflanzen, die doch ohne ſolche innere Reſiſtenz, ohne ſolche Reßorts, wie ſich in dem Menſchen befinden — Millionen ſich kreuzenden Druͤcken des Lichtes, der Luft u. ſ. f. ausgeſetzt ſind — welche verwandelt ſich dadurch in eine andere Geſtalt? welche wird unkenntlich dadurch fuͤr den Kenner? die allergewaltſamſten Zufaͤlle koͤnnen ſie kaum unkenntlich machen — ſo lange ſie noch ihren Organismus behalten? (Seite 6.) „So ſteht unſer Koͤrper zwiſchen Seele und der uͤbrigen Welt in der Mitte, „Spiegel der Wirkungen von beyden,“ — (vortrefflich geſagt!) „erzaͤhlt nicht allein unſere Neigun- „gen und Faͤhigkeiten,“ — (alſo erzaͤhlt er ſie doch — und wer ſagt, daß es dieſe allein erzaͤhle?) — „ſondern auch die Peitſchenſchlaͤge des Schickſals, Clima, Krankheit, Nahrung, und tauſend Un- „gemach, dem uns nicht immer unſer eigener boͤſer Entſchluß, ſondern oft Zufall, und oft Pflicht „ausſetzen.“ — Wer laͤugnet dieß? kann’s laͤugnen? aber hebt eins das andere auf? das iſt die Frage hier, ſonſt nichts! Sagt unſer Verfaſſer nicht ſelbſt: „Koͤrper iſt Spiegel der Wirkungen „von beyden?“ — Alſo nicht nur von den „Peitſchenſchlaͤgen des Schickſals?“ — Warum nicht eben ſowohl von der innern Energie, oder Nichtenergie der Seele? Woruͤber ſtreiten wir? Hat’s nicht, (vorausgeſetzt, daß der Verfaſſer nicht im Scherze ſpreche!) den Schein wenigſtens ei- ner Zaͤnklerey — wenn man itzt eins wider das andere ſetzt? und doch den Koͤrper zum Spiegel von

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/52>, abgerufen am 28.11.2024.