Hat die Mutter außerordentlich lebhafte Augen, so kann man beynahe sicher seyn, daß die meisten Kinder ihr diese Augen aberben werden, denn die Mutter imaginirt sich und spiegelt sich in nichts mit solcher Verliebtheit hinein, als in ihre eignen Augen. Der physiognomische Sinn für die Augen ist bis auf itzt noch viel allgemeiner, als der für die Nasen und die Gesichtsform. Wer- den sich die Frauenspersonen einmal vermessen, die Physiognomik der Nasen und der Gesichtsfor- men, so wie die ihrer eignen Augen, zu studieren; so ist zu erwarten, daß diese dann nicht weniger auffallend erblich seyn werden als jene.
Kurze und gewölbte Stirnen erben sich sehr leicht aber nicht lange fort, und es mag auch hier gelten, quod cito fit, cito perit.
Es ist eben so gewiß und eben so unerklärlich, daß gewisse frappante Physiognomien von den fruchtbarsten Personen durchaus ohne ähnliche Nachkommenschaft untergehen; so gewiß und unerklärlich es ist, daß gewisse andere niemals aussterben.
Nicht weniger merkwürdig ist, daß eine väterliche oder mütterliche starkgezeichnete Physiog- nomie sich bisweilen in den unmittelbaren Kindern gänzlich verliert, in den Kindeskindern voll- kommen wieder zum Vorschein kommt.
Wie sehr in diesem Stücke von der Einbildungskraft der Mutter unbegreiflich viel abhängt, läßt sich auch daraus erweisen, daß Mütter in der zweyten Ehe bisweilen Kinder bekommen, die ihrem ersten Ehemanne wenigstens der Miene nach frappant ähnlich sind. -- Die Jtaliäner ge- hen jedoch offenbar zu ausschweifend weit, wenn sie Kinder, die dem Mann ihrer Mutter frappant ähnlich sehen, deswegen für untergeschoben ansehen, weil, sagen sie, die Mütter während einer so schändlichen Vergehung sich die vielleichtige Dazwischenkunft und das Bild ihres Mannes tief zu imaginiren pflegen; denn wenn diese Furcht je wirken sollte, so müßte sie Kinder bilden, die nicht nur die Gestalt von dem Manne ihrer Mutter, sondern auch zugleich die Miene des Zornes und der Rache empfiengen, ohne welche sich die ehebrecherische Frau ihren Mann und seine Dazwischen- kunft nicht imaginiren kann, denn diese Miene ist's doch eigentlich, was sie fürchtet, und nicht -- der Mann.
Uneheliche Kinder sehen gemeiniglich dem einen von ihren Aeltern viel ähnlicher, als die ehelichen.
Je
Phys. Fragm.IVVersuch. T t
Aehnlichkeit der Aeltern und Kinder.
Hat die Mutter außerordentlich lebhafte Augen, ſo kann man beynahe ſicher ſeyn, daß die meiſten Kinder ihr dieſe Augen aberben werden, denn die Mutter imaginirt ſich und ſpiegelt ſich in nichts mit ſolcher Verliebtheit hinein, als in ihre eignen Augen. Der phyſiognomiſche Sinn fuͤr die Augen iſt bis auf itzt noch viel allgemeiner, als der fuͤr die Naſen und die Geſichtsform. Wer- den ſich die Frauensperſonen einmal vermeſſen, die Phyſiognomik der Naſen und der Geſichtsfor- men, ſo wie die ihrer eignen Augen, zu ſtudieren; ſo iſt zu erwarten, daß dieſe dann nicht weniger auffallend erblich ſeyn werden als jene.
Kurze und gewoͤlbte Stirnen erben ſich ſehr leicht aber nicht lange fort, und es mag auch hier gelten, quod cito fit, cito perit.
Es iſt eben ſo gewiß und eben ſo unerklaͤrlich, daß gewiſſe frappante Phyſiognomien von den fruchtbarſten Perſonen durchaus ohne aͤhnliche Nachkommenſchaft untergehen; ſo gewiß und unerklaͤrlich es iſt, daß gewiſſe andere niemals ausſterben.
Nicht weniger merkwuͤrdig iſt, daß eine vaͤterliche oder muͤtterliche ſtarkgezeichnete Phyſiog- nomie ſich bisweilen in den unmittelbaren Kindern gaͤnzlich verliert, in den Kindeskindern voll- kommen wieder zum Vorſchein kommt.
Wie ſehr in dieſem Stuͤcke von der Einbildungskraft der Mutter unbegreiflich viel abhaͤngt, laͤßt ſich auch daraus erweiſen, daß Muͤtter in der zweyten Ehe bisweilen Kinder bekommen, die ihrem erſten Ehemanne wenigſtens der Miene nach frappant aͤhnlich ſind. — Die Jtaliaͤner ge- hen jedoch offenbar zu ausſchweifend weit, wenn ſie Kinder, die dem Mann ihrer Mutter frappant aͤhnlich ſehen, deswegen fuͤr untergeſchoben anſehen, weil, ſagen ſie, die Muͤtter waͤhrend einer ſo ſchaͤndlichen Vergehung ſich die vielleichtige Dazwiſchenkunft und das Bild ihres Mannes tief zu imaginiren pflegen; denn wenn dieſe Furcht je wirken ſollte, ſo muͤßte ſie Kinder bilden, die nicht nur die Geſtalt von dem Manne ihrer Mutter, ſondern auch zugleich die Miene des Zornes und der Rache empfiengen, ohne welche ſich die ehebrecheriſche Frau ihren Mann und ſeine Dazwiſchen- kunft nicht imaginiren kann, denn dieſe Miene iſt’s doch eigentlich, was ſie fuͤrchtet, und nicht — der Mann.
Uneheliche Kinder ſehen gemeiniglich dem einen von ihren Aeltern viel aͤhnlicher, als die ehelichen.
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Phyſ. Fragm.IVVerſuch. T t
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Aehnlichkeit der Aeltern und Kinder.
Hat die Mutter außerordentlich lebhafte Augen, ſo kann man beynahe ſicher ſeyn, daß die
meiſten Kinder ihr dieſe Augen aberben werden, denn die Mutter imaginirt ſich und ſpiegelt ſich in
nichts mit ſolcher Verliebtheit hinein, als in ihre eignen Augen. Der phyſiognomiſche Sinn fuͤr
die Augen iſt bis auf itzt noch viel allgemeiner, als der fuͤr die Naſen und die Geſichtsform. Wer-
den ſich die Frauensperſonen einmal vermeſſen, die Phyſiognomik der Naſen und der Geſichtsfor-
men, ſo wie die ihrer eignen Augen, zu ſtudieren; ſo iſt zu erwarten, daß dieſe dann nicht weniger
auffallend erblich ſeyn werden als jene.
Kurze und gewoͤlbte Stirnen erben ſich ſehr leicht aber nicht lange fort, und es mag auch
hier gelten, quod cito fit, cito perit.
Es iſt eben ſo gewiß und eben ſo unerklaͤrlich, daß gewiſſe frappante Phyſiognomien von
den fruchtbarſten Perſonen durchaus ohne aͤhnliche Nachkommenſchaft untergehen; ſo gewiß und
unerklaͤrlich es iſt, daß gewiſſe andere niemals ausſterben.
Nicht weniger merkwuͤrdig iſt, daß eine vaͤterliche oder muͤtterliche ſtarkgezeichnete Phyſiog-
nomie ſich bisweilen in den unmittelbaren Kindern gaͤnzlich verliert, in den Kindeskindern voll-
kommen wieder zum Vorſchein kommt.
Wie ſehr in dieſem Stuͤcke von der Einbildungskraft der Mutter unbegreiflich viel abhaͤngt,
laͤßt ſich auch daraus erweiſen, daß Muͤtter in der zweyten Ehe bisweilen Kinder bekommen, die
ihrem erſten Ehemanne wenigſtens der Miene nach frappant aͤhnlich ſind. — Die Jtaliaͤner ge-
hen jedoch offenbar zu ausſchweifend weit, wenn ſie Kinder, die dem Mann ihrer Mutter frappant
aͤhnlich ſehen, deswegen fuͤr untergeſchoben anſehen, weil, ſagen ſie, die Muͤtter waͤhrend einer ſo
ſchaͤndlichen Vergehung ſich die vielleichtige Dazwiſchenkunft und das Bild ihres Mannes tief zu
imaginiren pflegen; denn wenn dieſe Furcht je wirken ſollte, ſo muͤßte ſie Kinder bilden, die nicht
nur die Geſtalt von dem Manne ihrer Mutter, ſondern auch zugleich die Miene des Zornes und
der Rache empfiengen, ohne welche ſich die ehebrecheriſche Frau ihren Mann und ſeine Dazwiſchen-
kunft nicht imaginiren kann, denn dieſe Miene iſt’s doch eigentlich, was ſie fuͤrchtet, und nicht —
der Mann.
Uneheliche Kinder ſehen gemeiniglich dem einen von ihren Aeltern viel aͤhnlicher, als die
ehelichen.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/389>, abgerufen am 16.02.2025.
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