Jch unternehme es nicht, das mindeste von den sonderbaren Erscheinungen in diesem Felde erklären zu wollen, aber Reduktion der befremdenden und seltenen Fälle auf bekannte, freylich auch unerklärbare, ist auch der bescheidensten Philosophie erlaubt, und das einzige, was meines Bedün- kens die Philosophie thun kann und soll.
Wir wissen gewiß, daß alle Muttermähler und was mit denselben in Aehnlichkeit gebracht werden kann, welches viel ist, nicht von dem Vater, sondern von der Einbildungskraft der Mutter herrühren -- ja wir wissen sogar, daß die Kinder nur dann dem Vater am ähnlichsten sehen, wenn die Mutter eine sehr lebhafte Einbildungskraft mit der Liebe zu ihrem Manne, oder mit der Furcht vor ihm verbindet; von dem Vater scheint also, wie gesagt, eigentlich mehr der Stoff und das Quantum der Kraft und des Lebens, von der Einbildungskraft der Mutter aber die Em- pfindlichkeit, die Nervenart und Form und die Miene herzurühren.
Jst nun in einem gewissen entscheidenden Momente die Einbildungskraft der Mutter von dem Bilde des Vaters zu ihrem eigenen Bilde schnell übergegangen; so dürfte darinn der Grund, erst von der Aehnlichkeit des Kindes mit dem Vater, und seiner nachherigen Aehnlichkeit mit der Mutter liegen.
Es giebt gewisse Gesichtsformen und Gesichtszüge, die sich sehr lange fortpflanzen, und an- dere, die gar bald wieder sterben -- Die schönsten und die häßlichsten Gesichter -- ich sage nicht Gesichtsformen, sondern die, welche man gemeiniglich für schön und schlecht erklärt -- sind nicht die, welche sich am leichtesten forterben, so auch nicht die mittelmäßigen und unbedeutenden, aber die großen und kleinlichen Gesichtsformen erben sich sehr leicht, und oft sehr lange fort.
Aeltern mit den kleinsten Nasen bekommen Kinder mit den größten und ausgezeichnetsten.. Aber selten umgekehrt. Hat ein Vater oder eine Mutter eine sehr starke, das heißt, starkgeknochte Nase; so wird gewiß wenigstens eins von ihren Kindern etwas davon erben, und sie wird sich so leicht nicht mehr aus der Familie vertilgen lassen; besonders wenn sie sich auf die weibliche Descen- denz pflanzt; es kann seyn, daß sie sich viele Jahre incognito hält, aber über kurz oder lang wird sie sich hervorthun müssen, und ihre Aehnlichkeit mit ihrem Stammvater wird sich besonders einen oder zween Tage nach dem Tode zeigen.
Hat
V. Abſchnitt. IX. Fragment.
Jch unternehme es nicht, das mindeſte von den ſonderbaren Erſcheinungen in dieſem Felde erklaͤren zu wollen, aber Reduktion der befremdenden und ſeltenen Faͤlle auf bekannte, freylich auch unerklaͤrbare, iſt auch der beſcheidenſten Philoſophie erlaubt, und das einzige, was meines Beduͤn- kens die Philoſophie thun kann und ſoll.
Wir wiſſen gewiß, daß alle Muttermaͤhler und was mit denſelben in Aehnlichkeit gebracht werden kann, welches viel iſt, nicht von dem Vater, ſondern von der Einbildungskraft der Mutter herruͤhren — ja wir wiſſen ſogar, daß die Kinder nur dann dem Vater am aͤhnlichſten ſehen, wenn die Mutter eine ſehr lebhafte Einbildungskraft mit der Liebe zu ihrem Manne, oder mit der Furcht vor ihm verbindet; von dem Vater ſcheint alſo, wie geſagt, eigentlich mehr der Stoff und das Quantum der Kraft und des Lebens, von der Einbildungskraft der Mutter aber die Em- pfindlichkeit, die Nervenart und Form und die Miene herzuruͤhren.
Jſt nun in einem gewiſſen entſcheidenden Momente die Einbildungskraft der Mutter von dem Bilde des Vaters zu ihrem eigenen Bilde ſchnell uͤbergegangen; ſo duͤrfte darinn der Grund, erſt von der Aehnlichkeit des Kindes mit dem Vater, und ſeiner nachherigen Aehnlichkeit mit der Mutter liegen.
Es giebt gewiſſe Geſichtsformen und Geſichtszuͤge, die ſich ſehr lange fortpflanzen, und an- dere, die gar bald wieder ſterben — Die ſchoͤnſten und die haͤßlichſten Geſichter — ich ſage nicht Geſichtsformen, ſondern die, welche man gemeiniglich fuͤr ſchoͤn und ſchlecht erklaͤrt — ſind nicht die, welche ſich am leichteſten forterben, ſo auch nicht die mittelmaͤßigen und unbedeutenden, aber die großen und kleinlichen Geſichtsformen erben ſich ſehr leicht, und oft ſehr lange fort.
Aeltern mit den kleinſten Naſen bekommen Kinder mit den groͤßten und ausgezeichnetſten.. Aber ſelten umgekehrt. Hat ein Vater oder eine Mutter eine ſehr ſtarke, das heißt, ſtarkgeknochte Naſe; ſo wird gewiß wenigſtens eins von ihren Kindern etwas davon erben, und ſie wird ſich ſo leicht nicht mehr aus der Familie vertilgen laſſen; beſonders wenn ſie ſich auf die weibliche Deſcen- denz pflanzt; es kann ſeyn, daß ſie ſich viele Jahre incognito haͤlt, aber uͤber kurz oder lang wird ſie ſich hervorthun muͤſſen, und ihre Aehnlichkeit mit ihrem Stammvater wird ſich beſonders einen oder zween Tage nach dem Tode zeigen.
Hat
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V. Abſchnitt. IX. Fragment.
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kens die Philoſophie thun kann und ſoll.
Wir wiſſen gewiß, daß alle Muttermaͤhler und was mit denſelben in Aehnlichkeit gebracht
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Mutter herruͤhren — ja wir wiſſen ſogar, daß die Kinder nur dann dem Vater am aͤhnlichſten ſehen,
wenn die Mutter eine ſehr lebhafte Einbildungskraft mit der Liebe zu ihrem Manne, oder mit der
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Jſt nun in einem gewiſſen entſcheidenden Momente die Einbildungskraft der Mutter von
dem Bilde des Vaters zu ihrem eigenen Bilde ſchnell uͤbergegangen; ſo duͤrfte darinn der Grund,
erſt von der Aehnlichkeit des Kindes mit dem Vater, und ſeiner nachherigen Aehnlichkeit mit der
Mutter liegen.
Es giebt gewiſſe Geſichtsformen und Geſichtszuͤge, die ſich ſehr lange fortpflanzen, und an-
dere, die gar bald wieder ſterben — Die ſchoͤnſten und die haͤßlichſten Geſichter — ich ſage nicht
Geſichtsformen, ſondern die, welche man gemeiniglich fuͤr ſchoͤn und ſchlecht erklaͤrt — ſind nicht
die, welche ſich am leichteſten forterben, ſo auch nicht die mittelmaͤßigen und unbedeutenden, aber
die großen und kleinlichen Geſichtsformen erben ſich ſehr leicht, und oft ſehr lange fort.
Aeltern mit den kleinſten Naſen bekommen Kinder mit den groͤßten und ausgezeichnetſten..
Aber ſelten umgekehrt. Hat ein Vater oder eine Mutter eine ſehr ſtarke, das heißt, ſtarkgeknochte
Naſe; ſo wird gewiß wenigſtens eins von ihren Kindern etwas davon erben, und ſie wird ſich ſo
leicht nicht mehr aus der Familie vertilgen laſſen; beſonders wenn ſie ſich auf die weibliche Deſcen-
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ſie ſich hervorthun muͤſſen, und ihre Aehnlichkeit mit ihrem Stammvater wird ſich beſonders einen
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/388>, abgerufen am 25.11.2024.
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