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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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IV. Abschnitt. VI. Fragment.

Wie die Lippen, so der Charakter.

Feste Lippen, fester Charakter. Weiche und schnell bewegliche Lippen, schnell beweglicher
Charakter.

Ausgezeichnete, bestimmte, große, wohl proportionirte Lippen, aus denen die sich sanft und
auf beyden Seiten gleichschlängelnde Mittellinie leicht nachzuzeichnen, leicht herauszuheben ist --
sind nie an schlechten, niedrigen, gemeinen Menschen zu finden, wohl an wollüstigen, aber nicht an
falschen, kriechenden, boshaften Charaktern.

Verbissener, lippenloser Mund, der bloß einer Linie gleicht -- sicheres Zeichen von Kälte,
Fleiß, Ordnungsliebe, Genauheit, Reinlichkeit, und wenn er an beyden Enden aufwärts sich zieht,
von Affektation, Prätension, Eitelkeit -- und allenfalls von dem, was aus kalter Eitelkeit entste-
hen kann -- Schalkheit.

Sehr fleischige Lippen haben immer mit Sinnlichkeit, Trägheit und Prasserey zu kämpfen.

Beschnittene, scharfgezeichnete, mit Aengstlichkeit und Geiz. Ruhig und ohne An-
strengung wohl geschlossene, bestimmt gezeichnete Lippen sind ein sicheres Zeichen von Ueberlegung,
Klugheit, Festigkeit.

Sanft überhängende Oberlippen sind ein allgemeines Zeichen von Güte. Doch giebt's
auch unzählige Gute mit vorstehenden Unterlippen. Aber dieser letztern Güte ist mehr kalte Treue
und Gutherzigkeit, als warme theilnehmende Freundschafts-Anmuth.

Jn der Mitte sich höhlende Unterlippen -- launigte Charakter. Man bemerke nur
den Moment, wo einem launevollen Menschen ein Einfall auf der Lippe schwebt -- die Lippe wird
sich in der Mitte ein wenig herablassen und höhlen.

Ein verschlossener Mund, aber nicht zugespitzter, affektirter, zeigt immer Muth und Festig-
keit des Charakters an, und in Fällen, wo die Herzhaftigkeit unumgänglich ist, sieht man auch die
gewöhnlich offnen Mäuler sich verschließen. Offenheit des Mundes ist des Klagenden, Ge-
schlossenheit
des Duldenden. *)

Von
*) [Spaltenumbruch] La bouche est la partie, qui de tout le visage
marque plus particulierement les mouvemens du coeur.
Lorsqu'il se plaint, la bouche l'abaisse par les cotes,
[Spaltenumbruch] lorsqu'il est content, les coins de la bouche s'elevent
en haut.
Lorsqu'il a de l'aversion, la bouche se pousse en
avant, & s'eleve par le milieu.
Le Brün.
IV. Abſchnitt. VI. Fragment.

Wie die Lippen, ſo der Charakter.

Feſte Lippen, feſter Charakter. Weiche und ſchnell bewegliche Lippen, ſchnell beweglicher
Charakter.

Ausgezeichnete, beſtimmte, große, wohl proportionirte Lippen, aus denen die ſich ſanft und
auf beyden Seiten gleichſchlaͤngelnde Mittellinie leicht nachzuzeichnen, leicht herauszuheben iſt —
ſind nie an ſchlechten, niedrigen, gemeinen Menſchen zu finden, wohl an wolluͤſtigen, aber nicht an
falſchen, kriechenden, boshaften Charaktern.

Verbiſſener, lippenloſer Mund, der bloß einer Linie gleicht — ſicheres Zeichen von Kaͤlte,
Fleiß, Ordnungsliebe, Genauheit, Reinlichkeit, und wenn er an beyden Enden aufwaͤrts ſich zieht,
von Affektation, Praͤtenſion, Eitelkeit — und allenfalls von dem, was aus kalter Eitelkeit entſte-
hen kann — Schalkheit.

Sehr fleiſchige Lippen haben immer mit Sinnlichkeit, Traͤgheit und Praſſerey zu kaͤmpfen.

Beſchnittene, ſcharfgezeichnete, mit Aengſtlichkeit und Geiz. Ruhig und ohne An-
ſtrengung wohl geſchloſſene, beſtimmt gezeichnete Lippen ſind ein ſicheres Zeichen von Ueberlegung,
Klugheit, Feſtigkeit.

Sanft uͤberhaͤngende Oberlippen ſind ein allgemeines Zeichen von Guͤte. Doch giebt’s
auch unzaͤhlige Gute mit vorſtehenden Unterlippen. Aber dieſer letztern Guͤte iſt mehr kalte Treue
und Gutherzigkeit, als warme theilnehmende Freundſchafts-Anmuth.

Jn der Mitte ſich hoͤhlende Unterlippen — launigte Charakter. Man bemerke nur
den Moment, wo einem launevollen Menſchen ein Einfall auf der Lippe ſchwebt — die Lippe wird
ſich in der Mitte ein wenig herablaſſen und hoͤhlen.

Ein verſchloſſener Mund, aber nicht zugeſpitzter, affektirter, zeigt immer Muth und Feſtig-
keit des Charakters an, und in Faͤllen, wo die Herzhaftigkeit unumgaͤnglich iſt, ſieht man auch die
gewoͤhnlich offnen Maͤuler ſich verſchließen. Offenheit des Mundes iſt des Klagenden, Ge-
ſchloſſenheit
des Duldenden. *)

Von
*) [Spaltenumbruch] La bouche eſt la partie, qui de tout le viſage
marque plus particulierement les mouvemens du cœur.
Lorsqu’il ſe plaint, la bouche l’abaiſſe par les cotés,
[Spaltenumbruch] lorsqu’il eſt content, les coins de la bouche s’élevent
en haut.
Lorsqu’il a de l’averſion, la bouche ſe pouſſe en
avant, & s’éleve par le milieu.
Le Bruͤn.
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[260/0300] IV. Abſchnitt. VI. Fragment. Wie die Lippen, ſo der Charakter. Feſte Lippen, feſter Charakter. Weiche und ſchnell bewegliche Lippen, ſchnell beweglicher Charakter. Ausgezeichnete, beſtimmte, große, wohl proportionirte Lippen, aus denen die ſich ſanft und auf beyden Seiten gleichſchlaͤngelnde Mittellinie leicht nachzuzeichnen, leicht herauszuheben iſt — ſind nie an ſchlechten, niedrigen, gemeinen Menſchen zu finden, wohl an wolluͤſtigen, aber nicht an falſchen, kriechenden, boshaften Charaktern. Verbiſſener, lippenloſer Mund, der bloß einer Linie gleicht — ſicheres Zeichen von Kaͤlte, Fleiß, Ordnungsliebe, Genauheit, Reinlichkeit, und wenn er an beyden Enden aufwaͤrts ſich zieht, von Affektation, Praͤtenſion, Eitelkeit — und allenfalls von dem, was aus kalter Eitelkeit entſte- hen kann — Schalkheit. Sehr fleiſchige Lippen haben immer mit Sinnlichkeit, Traͤgheit und Praſſerey zu kaͤmpfen. Beſchnittene, ſcharfgezeichnete, mit Aengſtlichkeit und Geiz. Ruhig und ohne An- ſtrengung wohl geſchloſſene, beſtimmt gezeichnete Lippen ſind ein ſicheres Zeichen von Ueberlegung, Klugheit, Feſtigkeit. Sanft uͤberhaͤngende Oberlippen ſind ein allgemeines Zeichen von Guͤte. Doch giebt’s auch unzaͤhlige Gute mit vorſtehenden Unterlippen. Aber dieſer letztern Guͤte iſt mehr kalte Treue und Gutherzigkeit, als warme theilnehmende Freundſchafts-Anmuth. Jn der Mitte ſich hoͤhlende Unterlippen — launigte Charakter. Man bemerke nur den Moment, wo einem launevollen Menſchen ein Einfall auf der Lippe ſchwebt — die Lippe wird ſich in der Mitte ein wenig herablaſſen und hoͤhlen. Ein verſchloſſener Mund, aber nicht zugeſpitzter, affektirter, zeigt immer Muth und Feſtig- keit des Charakters an, und in Faͤllen, wo die Herzhaftigkeit unumgaͤnglich iſt, ſieht man auch die gewoͤhnlich offnen Maͤuler ſich verſchließen. Offenheit des Mundes iſt des Klagenden, Ge- ſchloſſenheit des Duldenden. *) Von *) La bouche eſt la partie, qui de tout le viſage marque plus particulierement les mouvemens du cœur. Lorsqu’il ſe plaint, la bouche l’abaiſſe par les cotés, lorsqu’il eſt content, les coins de la bouche s’élevent en haut. Lorsqu’il a de l’averſion, la bouche ſe pouſſe en avant, & s’éleve par le milieu. Le Bruͤn.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/300>, abgerufen am 23.11.2024.