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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber die Stirne.

12) Jch wollte beynahe als Axiom setzen -- alle Geradheit als solche verhält sich zur
Gebogenheit als solcher, wie Kraft und Schwäche, wie Steifsinn und Biegsamkeit, wie
Verstand und sinnliche Empfindung.

13) Noch keinen Menschen mit scharf hervordringenden Augenknochen habe ich gesehen, der
nicht zu feinen Verstandesübungen und Entwürfen der Klugheit große Anlagen hatte.

14) Aber ohne diese scharfe Ecke giebt's vortreffliche Köpfe -- die mehr Stätigkeit haben,
wenn sich die Stirn unten wie eine perpendikuläre Mauer auf horizontale Augenbraunen senkt, und
zu beyden Seiten sanft rund gegen die Schläfe wölbt.

[Spaltenumbruch]
15) Per-
"On doit faire une difference du front etroit & res-
"serre
d'avcc le front petit. Celui-ci s'entend du front,
"sur lequel les cheveux descendent trop, & lui otent
"sa proportion naturelle de hauteur, qui est la troi-
"sieme partie de la face; le nez en occupe une, &
"l'espace du nez au bout du menton fait l'autre. Le
"front etroit & resserre est tel, lorsque les cheveux
"avancent trop des tempes sur le front, & diminuent
"sa largeur requise. C'est celui des cochons. On at-
"tribue aux petits fronts la vivacite d'esprit, le babil,
"l'inconstance & le jugement trop precipite; mais on
"accuse le front etroit d'etre l'indice de la folie, de
"l'indocilite, de la gourmandise &c. Les anciens
"romains regardoient la petitesse du front, quand el-
"le n'etoit pas excessive, comme un trait de beaute!

Insignem tenui fronte Lycorida
Cyri torret amor,
Horat.

Winkelmann macht dieselbe Anmerkung, die hier al-
lerdings einen Zwischenplatz verdient. -- Er rede also
hier statt des XII. Physiognomen.
"An dem Haupte, sagt er, *) ist eine kurze Stirn den
"Begriffen der alten Künstler und der Schönheit derge-
"stalt eigen, daß dieselbe ein Kennzeichen ist, vielmals
"eine neue Arbeit von der alten zu unterscheiden. Durch
[Spaltenumbruch] "eine hohe Stirn allein habe ich an manchem Kopfe,
"den ich nicht in der Nähe betrachten können, erkannt,
"daß derselbe neu ist -- Jch habe sogar bemerket, daß
"einige unserer Künstler so wenig Betrachtung über die-
"se Schönheit gemacht haben, daß sie Abbildungen jun-
"ger Personen von beyderley Geschlechte, die ich kenne,
"und an welchen die Stirn kurz ist, dieselbe erhöhet,
"und den Haarwuchs herauf gerücket, um, wie man et-
"wa geglaubet, eine offene Stirn zu machen. Zu die-
"sem Haufen gehörte Bernini." (Der selbst eine hohe
große geräumige Stirn hatte, und also vermuthlich,
bewußt oder unbewußt, den kleinen nicht so gewogen
war.) "Und Baldinucci glaubt etwas besonders von
"dem feinen Geschmacke dieses Künstlers anzubringen,
"wenn er berichtet, es habe derselbe, da er Ludwigs
"des XIV. Bildniß in dessen Jugend, nach dem Leben
"selbst modellirt, diesem jungen Könige die Haare von
"der Stirne weggestrichen; dieser schwatzhafte Floren-
"tiner verräth hier, wie in vielen andern Dingen, seine
"wenige Kenntniß. Um sich hievon zu überzeugen, darf
"man nur an Personen, die eine niedrige Stirn haben,
"die vordern Haare mit einem Finger bedecken, und sich
"die Stirn um so viel höher vorstellen, so wird, wenn
"ich so reden darf, der Uebelklang der Proportion merk-
"lich werden -- Und wie eine hohe Stirn der Schön-
heit
*) Anmerkungen über die Geschichte des Alterthums. S. 51.
und weiter.
Ueber die Stirne.

12) Jch wollte beynahe als Axiom ſetzen — alle Geradheit als ſolche verhaͤlt ſich zur
Gebogenheit als ſolcher, wie Kraft und Schwaͤche, wie Steifſinn und Biegſamkeit, wie
Verſtand und ſinnliche Empfindung.

13) Noch keinen Menſchen mit ſcharf hervordringenden Augenknochen habe ich geſehen, der
nicht zu feinen Verſtandesuͤbungen und Entwuͤrfen der Klugheit große Anlagen hatte.

14) Aber ohne dieſe ſcharfe Ecke giebt’s vortreffliche Koͤpfe — die mehr Staͤtigkeit haben,
wenn ſich die Stirn unten wie eine perpendikulaͤre Mauer auf horizontale Augenbraunen ſenkt, und
zu beyden Seiten ſanft rund gegen die Schlaͤfe woͤlbt.

[Spaltenumbruch]
15) Per-
On doit faire une différence du front étroit & reſ-
„ſerré
d’avcc le front petit. Celui-ci s’entend du front,
„ſur lequel les cheveux deſcendent trop, & lui ôtent
„ſa proportion naturelle de hauteur, qui eſt la troi-
„ſieme partie de la face; le nez en occupe une, &
„l’eſpace du nez au bout du menton fait l’autre. Le
„front étroit & reſſerré eſt tel, lorsque les cheveux
„avancent trop des tempes ſur le front, & diminuent
„ſa largeur requiſe. C’eſt celui des cochons. On at-
„tribue aux petits fronts la vivacité d’eſprit, le babil,
„l’inconſtance & le jugement trop précipité; mais on
„accuſe le front étroit d’étre l’indice de la folie, de
„l’indocilité, de la gourmandiſe &c. Les anciens
„romains regardoient la petiteſſe du front, quand el-
„le n’étoit pas exceſſive, comme un trait de beaute!

Inſignem tenui fronte Lycorida
Cyri torret amor,
Horat.

Winkelmann macht dieſelbe Anmerkung, die hier al-
lerdings einen Zwiſchenplatz verdient. — Er rede alſo
hier ſtatt des XII. Phyſiognomen.
„An dem Haupte, ſagt er, *) iſt eine kurze Stirn den
„Begriffen der alten Kuͤnſtler und der Schoͤnheit derge-
„ſtalt eigen, daß dieſelbe ein Kennzeichen iſt, vielmals
„eine neue Arbeit von der alten zu unterſcheiden. Durch
[Spaltenumbruch] „eine hohe Stirn allein habe ich an manchem Kopfe,
„den ich nicht in der Naͤhe betrachten koͤnnen, erkannt,
„daß derſelbe neu iſt — Jch habe ſogar bemerket, daß
„einige unſerer Kuͤnſtler ſo wenig Betrachtung uͤber die-
„ſe Schoͤnheit gemacht haben, daß ſie Abbildungen jun-
„ger Perſonen von beyderley Geſchlechte, die ich kenne,
„und an welchen die Stirn kurz iſt, dieſelbe erhoͤhet,
„und den Haarwuchs herauf geruͤcket, um, wie man et-
„wa geglaubet, eine offene Stirn zu machen. Zu die-
„ſem Haufen gehoͤrte Bernini.“ (Der ſelbſt eine hohe
große geraͤumige Stirn hatte, und alſo vermuthlich,
bewußt oder unbewußt, den kleinen nicht ſo gewogen
war.) „Und Baldinucci glaubt etwas beſonders von
„dem feinen Geſchmacke dieſes Kuͤnſtlers anzubringen,
„wenn er berichtet, es habe derſelbe, da er Ludwigs
„des XIV. Bildniß in deſſen Jugend, nach dem Leben
„ſelbſt modellirt, dieſem jungen Koͤnige die Haare von
„der Stirne weggeſtrichen; dieſer ſchwatzhafte Floren-
„tiner verraͤth hier, wie in vielen andern Dingen, ſeine
„wenige Kenntniß. Um ſich hievon zu uͤberzeugen, darf
„man nur an Perſonen, die eine niedrige Stirn haben,
„die vordern Haare mit einem Finger bedecken, und ſich
„die Stirn um ſo viel hoͤher vorſtellen, ſo wird, wenn
„ich ſo reden darf, der Uebelklang der Proportion merk-
„lich werden — Und wie eine hohe Stirn der Schoͤn-
heit
*) Anmerkungen uͤber die Geſchichte des Alterthums. S. 51.
und weiter.
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[231/0261] Ueber die Stirne. 12) Jch wollte beynahe als Axiom ſetzen — alle Geradheit als ſolche verhaͤlt ſich zur Gebogenheit als ſolcher, wie Kraft und Schwaͤche, wie Steifſinn und Biegſamkeit, wie Verſtand und ſinnliche Empfindung. 13) Noch keinen Menſchen mit ſcharf hervordringenden Augenknochen habe ich geſehen, der nicht zu feinen Verſtandesuͤbungen und Entwuͤrfen der Klugheit große Anlagen hatte. 14) Aber ohne dieſe ſcharfe Ecke giebt’s vortreffliche Koͤpfe — die mehr Staͤtigkeit haben, wenn ſich die Stirn unten wie eine perpendikulaͤre Mauer auf horizontale Augenbraunen ſenkt, und zu beyden Seiten ſanft rund gegen die Schlaͤfe woͤlbt. 15) Per- *) *) „On doit faire une différence du front étroit & reſ- „ſerré d’avcc le front petit. Celui-ci s’entend du front, „ſur lequel les cheveux deſcendent trop, & lui ôtent „ſa proportion naturelle de hauteur, qui eſt la troi- „ſieme partie de la face; le nez en occupe une, & „l’eſpace du nez au bout du menton fait l’autre. Le „front étroit & reſſerré eſt tel, lorsque les cheveux „avancent trop des tempes ſur le front, & diminuent „ſa largeur requiſe. C’eſt celui des cochons. On at- „tribue aux petits fronts la vivacité d’eſprit, le babil, „l’inconſtance & le jugement trop précipité; mais on „accuſe le front étroit d’étre l’indice de la folie, de „l’indocilité, de la gourmandiſe &c. Les anciens „romains regardoient la petiteſſe du front, quand el- „le n’étoit pas exceſſive, comme un trait de beaute! Inſignem tenui fronte Lycorida Cyri torret amor, Horat. Winkelmann macht dieſelbe Anmerkung, die hier al- lerdings einen Zwiſchenplatz verdient. — Er rede alſo hier ſtatt des XII. Phyſiognomen. „An dem Haupte, ſagt er, *) iſt eine kurze Stirn den „Begriffen der alten Kuͤnſtler und der Schoͤnheit derge- „ſtalt eigen, daß dieſelbe ein Kennzeichen iſt, vielmals „eine neue Arbeit von der alten zu unterſcheiden. Durch „eine hohe Stirn allein habe ich an manchem Kopfe, „den ich nicht in der Naͤhe betrachten koͤnnen, erkannt, „daß derſelbe neu iſt — Jch habe ſogar bemerket, daß „einige unſerer Kuͤnſtler ſo wenig Betrachtung uͤber die- „ſe Schoͤnheit gemacht haben, daß ſie Abbildungen jun- „ger Perſonen von beyderley Geſchlechte, die ich kenne, „und an welchen die Stirn kurz iſt, dieſelbe erhoͤhet, „und den Haarwuchs herauf geruͤcket, um, wie man et- „wa geglaubet, eine offene Stirn zu machen. Zu die- „ſem Haufen gehoͤrte Bernini.“ (Der ſelbſt eine hohe große geraͤumige Stirn hatte, und alſo vermuthlich, bewußt oder unbewußt, den kleinen nicht ſo gewogen war.) „Und Baldinucci glaubt etwas beſonders von „dem feinen Geſchmacke dieſes Kuͤnſtlers anzubringen, „wenn er berichtet, es habe derſelbe, da er Ludwigs „des XIV. Bildniß in deſſen Jugend, nach dem Leben „ſelbſt modellirt, dieſem jungen Koͤnige die Haare von „der Stirne weggeſtrichen; dieſer ſchwatzhafte Floren- „tiner verraͤth hier, wie in vielen andern Dingen, ſeine „wenige Kenntniß. Um ſich hievon zu uͤberzeugen, darf „man nur an Perſonen, die eine niedrige Stirn haben, „die vordern Haare mit einem Finger bedecken, und ſich „die Stirn um ſo viel hoͤher vorſtellen, ſo wird, wenn „ich ſo reden darf, der Uebelklang der Proportion merk- „lich werden — Und wie eine hohe Stirn der Schoͤn- heit *) Anmerkungen uͤber die Geſchichte des Alterthums. S. 51. und weiter.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/261>, abgerufen am 22.11.2024.