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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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IV. Abschnitt. I. Fragment.

4) Vollkommene Perpendikularität vom Haar zu den Augenbraunen ist -- Ver-
standlosigkeit.

5) Perpendikularität, die oben sanft sich wölbt, wie 6 auf dem Titelblatte -- zeigt
treffliche Anlage zu kaltem, stillem, tiefem Denken.

6) Vorhängende, wie 9, 10, 11, 12. imbezil, unreif, schwach, dumm.

7) Rückwärtsliegende, wie 1, 2, 3, 4. überhaupt mehr Jmagination, Witz, Feinheit.

[Spaltenumbruch]

8) Stirnen
stellung jede andere, sogar die Vorstellung des Zwecks,
weichen muß. Wer ist also geizig? wer wird's? Der
viele Bedürfnisse hat, und wenig innere Kraft sie zu
befriedigen. Jmmer Schwäche also ist Geiz. Jmmer
Mangel an eigner Kraft, oder am Gefühl eigner Kraft.
Wer am meisten eigne Kraft hat, der bedarf am we-
nigsten willkührliche.
Der mächtigste aller Menschen
war der ärmste aller Menschen. Der ärmste war der
ungeizigste, edelste, großmüthigste, der alles in sich,
nichts außer sich hatte; so viel aber in sich, daß er auf
alle Dinge außer sich als auf sein eigenstes Eigenthum
wirken; daß er allen das Siegel seiner Oberherrschaft
aufdrücken konnte. Gott muß das allerungeizigste al-
ler Wesen seyn, weil er in sich selbst alles hat und ist.
Was wird also der Großmuth und des Ungeizes all-
gemeines Zeichen seyn? -- Das der innerlichen Ue-
berkraft über die Bedürfnisse, die in unser Empfin-
dungssystem eintreten.
Was -- das allgemeine Zei-
chen des Geizes? -- das, so Mangel an Selbstkraft
oder Gefühl dieses Mangels der Selbstkraft anzeigt.

Diese bestimmte Quantität von Kraft und Nichtkraft
kann sich aber ganz anders wohin wenden, als zum
Geize: Muß nicht nothwendig Geiz zeugen -- Sind
die Umstände des Menschen glücklich; ist er wohl erzo-
gen; lenkt sich, durch Umstände und Erziehung geleitet,
sein Geist mit demselben Maaße von Kraft und Nicht-
kraft nach andern Bedürfnissen; so wird eine andere
[Spaltenumbruch] Leidenschaft in ihm entstehen, die so edel seyn kann, als
der Geiz unedel ist -- Zeitgeiz, Thatengeiz, Gefällig-
keitsgeiz,
wenn ich so sagen darf -- Jmmer eine ge-
wisse auf eine gewisse Sinnlichkeit beschränkte, ängstlich
zielende Mühsamkeit -- Ob nun dieser so bestimmte
Charakter sich in einer in der Mitte eingedrückten Stirn
zeige und ausdrücke -- das ist eine Sache, worüber
ohne die sorgfältigst gemachte Jnduktion nicht abge-
sprochen werden soll! Man sieht nun, hoffe ich, zugleich
aus diesem einzigen Beyspiele, wie unweise es ist, einem
Menschen um irgend eines solchen Zeichens willen, be-
sonders an den festen Theilen, ein Laster auf die Stirn
zu heften, welches, wie wir sehen, die gewöhnliche Me-
thode der Alten und ihrer Ausschreiber, der Neuen, ist.
Methode der Brandmarkung! Die Leidenschaften also
in ihre allgemeine Grundursache auflösen, oder den
Grad und die Art der Aktivität und Passivität ei-
nes Menschen überhaupt zu bestimmen, das ist das
Thun des weisen Physiognomisten; und wir können's
nicht genug wiederholen: Die allgemeine Summa von
Kraft, das anvertraute unveränderliche Capital von
Empfindung und Kraft ist in den festen Theilen, und
die freye willkührliche Anwendung dieses Capitals --
ist in den beweglichern Theilen des Gesichtes ausge-
drückt. Jene zeigen, was der Mensch seyn kann; diese
was er ist. -- Freylich auch, was er seyn kann, wenn
sie
IV. Abſchnitt. I. Fragment.

4) Vollkommene Perpendikularitaͤt vom Haar zu den Augenbraunen iſt — Ver-
ſtandloſigkeit.

5) Perpendikularitaͤt, die oben ſanft ſich woͤlbt, wie 6 auf dem Titelblatte — zeigt
treffliche Anlage zu kaltem, ſtillem, tiefem Denken.

6) Vorhaͤngende, wie 9, 10, 11, 12. imbezil, unreif, ſchwach, dumm.

7) Ruͤckwaͤrtsliegende, wie 1, 2, 3, 4. uͤberhaupt mehr Jmagination, Witz, Feinheit.

[Spaltenumbruch]

8) Stirnen
ſtellung jede andere, ſogar die Vorſtellung des Zwecks,
weichen muß. Wer iſt alſo geizig? wer wird’s? Der
viele Beduͤrfniſſe hat, und wenig innere Kraft ſie zu
befriedigen. Jmmer Schwaͤche alſo iſt Geiz. Jmmer
Mangel an eigner Kraft, oder am Gefuͤhl eigner Kraft.
Wer am meiſten eigne Kraft hat, der bedarf am we-
nigſten willkuͤhrliche.
Der maͤchtigſte aller Menſchen
war der aͤrmſte aller Menſchen. Der aͤrmſte war der
ungeizigſte, edelſte, großmuͤthigſte, der alles in ſich,
nichts außer ſich hatte; ſo viel aber in ſich, daß er auf
alle Dinge außer ſich als auf ſein eigenſtes Eigenthum
wirken; daß er allen das Siegel ſeiner Oberherrſchaft
aufdruͤcken konnte. Gott muß das allerungeizigſte al-
ler Weſen ſeyn, weil er in ſich ſelbſt alles hat und iſt.
Was wird alſo der Großmuth und des Ungeizes all-
gemeines Zeichen ſeyn? — Das der innerlichen Ue-
berkraft uͤber die Beduͤrfniſſe, die in unſer Empfin-
dungsſyſtem eintreten.
Was — das allgemeine Zei-
chen des Geizes? — das, ſo Mangel an Selbſtkraft
oder Gefuͤhl dieſes Mangels der Selbſtkraft anzeigt.

Dieſe beſtimmte Quantitaͤt von Kraft und Nichtkraft
kann ſich aber ganz anders wohin wenden, als zum
Geize: Muß nicht nothwendig Geiz zeugen — Sind
die Umſtaͤnde des Menſchen gluͤcklich; iſt er wohl erzo-
gen; lenkt ſich, durch Umſtaͤnde und Erziehung geleitet,
ſein Geiſt mit demſelben Maaße von Kraft und Nicht-
kraft nach andern Beduͤrfniſſen; ſo wird eine andere
[Spaltenumbruch] Leidenſchaft in ihm entſtehen, die ſo edel ſeyn kann, als
der Geiz unedel iſt — Zeitgeiz, Thatengeiz, Gefaͤllig-
keitsgeiz,
wenn ich ſo ſagen darf — Jmmer eine ge-
wiſſe auf eine gewiſſe Sinnlichkeit beſchraͤnkte, aͤngſtlich
zielende Muͤhſamkeit — Ob nun dieſer ſo beſtimmte
Charakter ſich in einer in der Mitte eingedruͤckten Stirn
zeige und ausdruͤcke — das iſt eine Sache, woruͤber
ohne die ſorgfaͤltigſt gemachte Jnduktion nicht abge-
ſprochen werden ſoll! Man ſieht nun, hoffe ich, zugleich
aus dieſem einzigen Beyſpiele, wie unweiſe es iſt, einem
Menſchen um irgend eines ſolchen Zeichens willen, be-
ſonders an den feſten Theilen, ein Laſter auf die Stirn
zu heften, welches, wie wir ſehen, die gewoͤhnliche Me-
thode der Alten und ihrer Ausſchreiber, der Neuen, iſt.
Methode der Brandmarkung! Die Leidenſchaften alſo
in ihre allgemeine Grundurſache aufloͤſen, oder den
Grad und die Art der Aktivitaͤt und Paſſivitaͤt ei-
nes Menſchen uͤberhaupt zu beſtimmen, das iſt das
Thun des weiſen Phyſiognomiſten; und wir koͤnnen’s
nicht genug wiederholen: Die allgemeine Summa von
Kraft, das anvertraute unveraͤnderliche Capital von
Empfindung und Kraft iſt in den feſten Theilen, und
die freye willkuͤhrliche Anwendung dieſes Capitals —
iſt in den beweglichern Theilen des Geſichtes ausge-
druͤckt. Jene zeigen, was der Menſch ſeyn kann; dieſe
was er iſt. — Freylich auch, was er ſeyn kann, wenn
ſie
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[228/0258] IV. Abſchnitt. I. Fragment. 4) Vollkommene Perpendikularitaͤt vom Haar zu den Augenbraunen iſt — Ver- ſtandloſigkeit. 5) Perpendikularitaͤt, die oben ſanft ſich woͤlbt, wie 6 auf dem Titelblatte — zeigt treffliche Anlage zu kaltem, ſtillem, tiefem Denken. 6) Vorhaͤngende, wie 9, 10, 11, 12. imbezil, unreif, ſchwach, dumm. 7) Ruͤckwaͤrtsliegende, wie 1, 2, 3, 4. uͤberhaupt mehr Jmagination, Witz, Feinheit. 8) Stirnen *) *) ſtellung jede andere, ſogar die Vorſtellung des Zwecks, weichen muß. Wer iſt alſo geizig? wer wird’s? Der viele Beduͤrfniſſe hat, und wenig innere Kraft ſie zu befriedigen. Jmmer Schwaͤche alſo iſt Geiz. Jmmer Mangel an eigner Kraft, oder am Gefuͤhl eigner Kraft. Wer am meiſten eigne Kraft hat, der bedarf am we- nigſten willkuͤhrliche. Der maͤchtigſte aller Menſchen war der aͤrmſte aller Menſchen. Der aͤrmſte war der ungeizigſte, edelſte, großmuͤthigſte, der alles in ſich, nichts außer ſich hatte; ſo viel aber in ſich, daß er auf alle Dinge außer ſich als auf ſein eigenſtes Eigenthum wirken; daß er allen das Siegel ſeiner Oberherrſchaft aufdruͤcken konnte. Gott muß das allerungeizigſte al- ler Weſen ſeyn, weil er in ſich ſelbſt alles hat und iſt. Was wird alſo der Großmuth und des Ungeizes all- gemeines Zeichen ſeyn? — Das der innerlichen Ue- berkraft uͤber die Beduͤrfniſſe, die in unſer Empfin- dungsſyſtem eintreten. Was — das allgemeine Zei- chen des Geizes? — das, ſo Mangel an Selbſtkraft oder Gefuͤhl dieſes Mangels der Selbſtkraft anzeigt. Dieſe beſtimmte Quantitaͤt von Kraft und Nichtkraft kann ſich aber ganz anders wohin wenden, als zum Geize: Muß nicht nothwendig Geiz zeugen — Sind die Umſtaͤnde des Menſchen gluͤcklich; iſt er wohl erzo- gen; lenkt ſich, durch Umſtaͤnde und Erziehung geleitet, ſein Geiſt mit demſelben Maaße von Kraft und Nicht- kraft nach andern Beduͤrfniſſen; ſo wird eine andere Leidenſchaft in ihm entſtehen, die ſo edel ſeyn kann, als der Geiz unedel iſt — Zeitgeiz, Thatengeiz, Gefaͤllig- keitsgeiz, wenn ich ſo ſagen darf — Jmmer eine ge- wiſſe auf eine gewiſſe Sinnlichkeit beſchraͤnkte, aͤngſtlich zielende Muͤhſamkeit — Ob nun dieſer ſo beſtimmte Charakter ſich in einer in der Mitte eingedruͤckten Stirn zeige und ausdruͤcke — das iſt eine Sache, woruͤber ohne die ſorgfaͤltigſt gemachte Jnduktion nicht abge- ſprochen werden ſoll! Man ſieht nun, hoffe ich, zugleich aus dieſem einzigen Beyſpiele, wie unweiſe es iſt, einem Menſchen um irgend eines ſolchen Zeichens willen, be- ſonders an den feſten Theilen, ein Laſter auf die Stirn zu heften, welches, wie wir ſehen, die gewoͤhnliche Me- thode der Alten und ihrer Ausſchreiber, der Neuen, iſt. Methode der Brandmarkung! Die Leidenſchaften alſo in ihre allgemeine Grundurſache aufloͤſen, oder den Grad und die Art der Aktivitaͤt und Paſſivitaͤt ei- nes Menſchen uͤberhaupt zu beſtimmen, das iſt das Thun des weiſen Phyſiognomiſten; und wir koͤnnen’s nicht genug wiederholen: Die allgemeine Summa von Kraft, das anvertraute unveraͤnderliche Capital von Empfindung und Kraft iſt in den feſten Theilen, und die freye willkuͤhrliche Anwendung dieſes Capitals — iſt in den beweglichern Theilen des Geſichtes ausge- druͤckt. Jene zeigen, was der Menſch ſeyn kann; dieſe was er iſt. — Freylich auch, was er ſeyn kann, wenn ſie

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/258>, abgerufen am 22.11.2024.