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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber das Studium der Physiognomik.
dir dieser Grundzug Hauptbuchstabe eines Charakters, und zu unzähligen Nüancen der Schlüs-
sel seyn.

Ein Beyspiel: Haller war gewiß in mancher Absicht -- ein ganz außerordentlicher
Mensch. Jch habe neben andern Merkwürdigkeiten seines Gesichtes, die er mit andern verständi-
gen Leuten gemein hatte, noch einen Zug, einen Umriß, einen Muskel am untern Augenliede be-
merkt, den ich noch an keinem Menschen in dieser Form und Bestimmtheit gesehen. Nun weiß ich
noch nicht, was er bedeutet. Jch gebe nun aber auf alle mir vorkommende Gesichter acht, und das
erste, das diesen Zug mitbringt, werde ich aufs genaueste prüfen -- werde es auf Gespräche aus
Hallers Fächern lenken, oder doch auf Dinge, wobey es sich leicht zeigt, ob etwas, und was von
Hallers Geiste in ihm seyn möchte. Jch bin zum voraus nach einer Menge ähnlicher Beobach-
tungen überzeugt, daß, wenn ich noch zwey Gesichter mit diesem Zuge gefunden, wieder ein großer
Buchstabe ins Alphabet der Physiognomik gefunden ist. Es könnte seyn, daß Haller Schwachhei-
ten gehabt, von denen dieser Zug das Wahrzeichen wäre; könnte hiemit seyn, daß dieser Zug an ir-
gend einem sehr gemeinen Menschen sich fände, der, ohne Hallers Menge von Trefflichkeiten, nur
diese Schwachheit mit ihm gemein hätte -- Wahrscheinlicher aber ist das Gegentheil. Jedoch oh-
ne Vorurtheil für das eine oder andere -- werde ich nun ein zweytes Gesicht mit diesem Zuge er-
warten.

Eine der wichtigsten Regeln sey also: Fange bey den außerordentlichsten Charaktern
an!
Studiere und erforsche vor allen Dingen -- die extremsten Charaktere; die äußersten En-
den entgegengesetzter Charaktere. -- Jtzt die entscheidendsten Züge der wohlwollendsten Güte --
dann die der entschiedendsten Bosheit. -- Jtzt den entschiedendsten Dichter -- dann den kältesten
Undichter; itzt den gebornen Thoren, dann den gebornen Weisen.

Besuche in dieser Absicht Thorenhospitäler -- und zeichne dir erst von den allergeistlosesten
Gesichtern die Grundform, die auffallendsten Züge; -- erst die, welche allen gemein sind -- sodann
das, was jeder besonders hat. Zeichnest du erst jeden besonders, so findest du das Allgemeine leicht --
hast du dieß, dann suche erst das Jndividuelle. Beschreibe und zeichne! zeichne und beschrei-
be!
Studiere jeden Theil besonders! decke das übrige mit der Hand -- dann sieh auf den Zusam-
menhang und die Verhältnisse. -- Frage dich -- sitzt's hier? sitzt's dort? das Entscheidende? Hebe

eines
T 2

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
dir dieſer Grundzug Hauptbuchſtabe eines Charakters, und zu unzaͤhligen Nuͤançen der Schluͤſ-
ſel ſeyn.

Ein Beyſpiel: Haller war gewiß in mancher Abſicht — ein ganz außerordentlicher
Menſch. Jch habe neben andern Merkwuͤrdigkeiten ſeines Geſichtes, die er mit andern verſtaͤndi-
gen Leuten gemein hatte, noch einen Zug, einen Umriß, einen Muskel am untern Augenliede be-
merkt, den ich noch an keinem Menſchen in dieſer Form und Beſtimmtheit geſehen. Nun weiß ich
noch nicht, was er bedeutet. Jch gebe nun aber auf alle mir vorkommende Geſichter acht, und das
erſte, das dieſen Zug mitbringt, werde ich aufs genaueſte pruͤfen — werde es auf Geſpraͤche aus
Hallers Faͤchern lenken, oder doch auf Dinge, wobey es ſich leicht zeigt, ob etwas, und was von
Hallers Geiſte in ihm ſeyn moͤchte. Jch bin zum voraus nach einer Menge aͤhnlicher Beobach-
tungen uͤberzeugt, daß, wenn ich noch zwey Geſichter mit dieſem Zuge gefunden, wieder ein großer
Buchſtabe ins Alphabet der Phyſiognomik gefunden iſt. Es koͤnnte ſeyn, daß Haller Schwachhei-
ten gehabt, von denen dieſer Zug das Wahrzeichen waͤre; koͤnnte hiemit ſeyn, daß dieſer Zug an ir-
gend einem ſehr gemeinen Menſchen ſich faͤnde, der, ohne Hallers Menge von Trefflichkeiten, nur
dieſe Schwachheit mit ihm gemein haͤtte — Wahrſcheinlicher aber iſt das Gegentheil. Jedoch oh-
ne Vorurtheil fuͤr das eine oder andere — werde ich nun ein zweytes Geſicht mit dieſem Zuge er-
warten.

Eine der wichtigſten Regeln ſey alſo: Fange bey den außerordentlichſten Charaktern
an!
Studiere und erforſche vor allen Dingen — die extremſten Charaktere; die aͤußerſten En-
den entgegengeſetzter Charaktere. — Jtzt die entſcheidendſten Zuͤge der wohlwollendſten Guͤte —
dann die der entſchiedendſten Bosheit. — Jtzt den entſchiedendſten Dichter — dann den kaͤlteſten
Undichter; itzt den gebornen Thoren, dann den gebornen Weiſen.

Beſuche in dieſer Abſicht Thorenhoſpitaͤler — und zeichne dir erſt von den allergeiſtloſeſten
Geſichtern die Grundform, die auffallendſten Zuͤge; — erſt die, welche allen gemein ſind — ſodann
das, was jeder beſonders hat. Zeichneſt du erſt jeden beſonders, ſo findeſt du das Allgemeine leicht —
haſt du dieß, dann ſuche erſt das Jndividuelle. Beſchreibe und zeichne! zeichne und beſchrei-
be!
Studiere jeden Theil beſonders! decke das uͤbrige mit der Hand — dann ſieh auf den Zuſam-
menhang und die Verhaͤltniſſe. — Frage dich — ſitzt’s hier? ſitzt’s dort? das Entſcheidende? Hebe

eines
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[147/0177] Ueber das Studium der Phyſiognomik. dir dieſer Grundzug Hauptbuchſtabe eines Charakters, und zu unzaͤhligen Nuͤançen der Schluͤſ- ſel ſeyn. Ein Beyſpiel: Haller war gewiß in mancher Abſicht — ein ganz außerordentlicher Menſch. Jch habe neben andern Merkwuͤrdigkeiten ſeines Geſichtes, die er mit andern verſtaͤndi- gen Leuten gemein hatte, noch einen Zug, einen Umriß, einen Muskel am untern Augenliede be- merkt, den ich noch an keinem Menſchen in dieſer Form und Beſtimmtheit geſehen. Nun weiß ich noch nicht, was er bedeutet. Jch gebe nun aber auf alle mir vorkommende Geſichter acht, und das erſte, das dieſen Zug mitbringt, werde ich aufs genaueſte pruͤfen — werde es auf Geſpraͤche aus Hallers Faͤchern lenken, oder doch auf Dinge, wobey es ſich leicht zeigt, ob etwas, und was von Hallers Geiſte in ihm ſeyn moͤchte. Jch bin zum voraus nach einer Menge aͤhnlicher Beobach- tungen uͤberzeugt, daß, wenn ich noch zwey Geſichter mit dieſem Zuge gefunden, wieder ein großer Buchſtabe ins Alphabet der Phyſiognomik gefunden iſt. Es koͤnnte ſeyn, daß Haller Schwachhei- ten gehabt, von denen dieſer Zug das Wahrzeichen waͤre; koͤnnte hiemit ſeyn, daß dieſer Zug an ir- gend einem ſehr gemeinen Menſchen ſich faͤnde, der, ohne Hallers Menge von Trefflichkeiten, nur dieſe Schwachheit mit ihm gemein haͤtte — Wahrſcheinlicher aber iſt das Gegentheil. Jedoch oh- ne Vorurtheil fuͤr das eine oder andere — werde ich nun ein zweytes Geſicht mit dieſem Zuge er- warten. Eine der wichtigſten Regeln ſey alſo: Fange bey den außerordentlichſten Charaktern an! Studiere und erforſche vor allen Dingen — die extremſten Charaktere; die aͤußerſten En- den entgegengeſetzter Charaktere. — Jtzt die entſcheidendſten Zuͤge der wohlwollendſten Guͤte — dann die der entſchiedendſten Bosheit. — Jtzt den entſchiedendſten Dichter — dann den kaͤlteſten Undichter; itzt den gebornen Thoren, dann den gebornen Weiſen. Beſuche in dieſer Abſicht Thorenhoſpitaͤler — und zeichne dir erſt von den allergeiſtloſeſten Geſichtern die Grundform, die auffallendſten Zuͤge; — erſt die, welche allen gemein ſind — ſodann das, was jeder beſonders hat. Zeichneſt du erſt jeden beſonders, ſo findeſt du das Allgemeine leicht — haſt du dieß, dann ſuche erſt das Jndividuelle. Beſchreibe und zeichne! zeichne und beſchrei- be! Studiere jeden Theil beſonders! decke das uͤbrige mit der Hand — dann ſieh auf den Zuſam- menhang und die Verhaͤltniſſe. — Frage dich — ſitzt’s hier? ſitzt’s dort? das Entſcheidende? Hebe eines T 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/177>, abgerufen am 22.11.2024.