Ganze. Man prägt sich Hauptsatz für Hauptsatz ein. Man versucht, bey weggelegtem Buche, sie herzusagen: und wenn man nicht mehr fortkommen kann, so sieht man im Texte wieder nach. So lerne ich Gesichter auswendig. Ohne diese Uebung wird der Beobachtungsgeist immer stumpf blei- ben, und nie zu einer Art von Souveränität gelangen, die ihm zum physiognomischen Studium schlechterdings nöthig ist.
Wenn du nun so ein charakteristisches Gesicht durchstudiert hast, so horche und schau einen, zween, drey Tage auf alle und jede Gesichter, die dir immer begegnen mögen -- und laß vors erste alle alle vorbeygehen, die nicht treffende Züge der Aehnlichkeit mit dem durchstudierten haben. Und damit du diese Aehnlichkeiten leichter findest, so schaue vors erste nur auf die Stirne -- wie die Aehnlichkeit der Stirne, so die Aehnlichkeit der übrigen Züge. Das ganze Geheimniß des physiognomischen Findens und Beobachtens besteht in der Vereinfachung, Entblößung, Heraushe- bung einzelner Hauptgrundzüge, die man suchen will. -- Findest du nun z. E. also eine ähnliche Stirn, hiemit auch nach unserer Voraussetzung ein ähnliches Gesicht -- so suche wiederum dir die- ses aufs genaueste zu bestimmen, und besonders das, was zur vollkommenen Aehnlichkeit noch man- gelt -- und mache dir sodann den Charakter des neugefundenen besonders in dem Punkte, worinn sich jener so sehr auszeichnet, zuverläßig bekannt. Findest du ganz entschiedene Aehnlichkeiten in beyden, ich sage ganz entschiedene, so bist du sicherlich dem physiognomischen Charakter ihrer aus- serordentlichen Seite auf der Spur -- woferne du sonst keinen andern Menschen siehst, der ohne diese außerordentliche Seite des innerlichen Charakters im äußern diesen beyden ähnlich ist. Findest du einen solchen -- aber schwerlich, schwerlich wirst du ihn finden, wenn du auch Jahre lang su- chest -- so ist das Auffallende in der Aehnlichkeit ihrer Physiognomien nicht der Charakter derjeni- gen Geisteseigenschaft, die sie zu außerordentlichen Menschen macht. Um dich noch weniger zu ir- ren, so horche und schaue auf die entscheidenden Momente, wo das Außerordentliche dieser Charaktere in Bewegung und Aktivität ist. Abstrahire dir scharf die Linie, die aus der Bewegung der Muskeln in diesem Momente entsteht, und vergleiche die aus beyden Gesichtern in diesem Momente sich ergebenden Linien. Wenn auch diese sich ähnlich sind -- so fuße auf die Aehnlichkeit des Geistes. Findest du einen ganz ungewöhnlichen Zug an einem außerordentlichen Menschen -- und gerade diesen an einem eben so außerordentlichen und keinem andern -- so wird
dir
II. Abſchnitt. V. Fragment.
Ganze. Man praͤgt ſich Hauptſatz fuͤr Hauptſatz ein. Man verſucht, bey weggelegtem Buche, ſie herzuſagen: und wenn man nicht mehr fortkommen kann, ſo ſieht man im Texte wieder nach. So lerne ich Geſichter auswendig. Ohne dieſe Uebung wird der Beobachtungsgeiſt immer ſtumpf blei- ben, und nie zu einer Art von Souveraͤnitaͤt gelangen, die ihm zum phyſiognomiſchen Studium ſchlechterdings noͤthig iſt.
Wenn du nun ſo ein charakteriſtiſches Geſicht durchſtudiert haſt, ſo horche und ſchau einen, zween, drey Tage auf alle und jede Geſichter, die dir immer begegnen moͤgen — und laß vors erſte alle alle vorbeygehen, die nicht treffende Zuͤge der Aehnlichkeit mit dem durchſtudierten haben. Und damit du dieſe Aehnlichkeiten leichter findeſt, ſo ſchaue vors erſte nur auf die Stirne — wie die Aehnlichkeit der Stirne, ſo die Aehnlichkeit der uͤbrigen Zuͤge. Das ganze Geheimniß des phyſiognomiſchen Findens und Beobachtens beſteht in der Vereinfachung, Entbloͤßung, Heraushe- bung einzelner Hauptgrundzuͤge, die man ſuchen will. — Findeſt du nun z. E. alſo eine aͤhnliche Stirn, hiemit auch nach unſerer Vorausſetzung ein aͤhnliches Geſicht — ſo ſuche wiederum dir die- ſes aufs genaueſte zu beſtimmen, und beſonders das, was zur vollkommenen Aehnlichkeit noch man- gelt — und mache dir ſodann den Charakter des neugefundenen beſonders in dem Punkte, worinn ſich jener ſo ſehr auszeichnet, zuverlaͤßig bekannt. Findeſt du ganz entſchiedene Aehnlichkeiten in beyden, ich ſage ganz entſchiedene, ſo biſt du ſicherlich dem phyſiognomiſchen Charakter ihrer auſ- ſerordentlichen Seite auf der Spur — woferne du ſonſt keinen andern Menſchen ſiehſt, der ohne dieſe außerordentliche Seite des innerlichen Charakters im aͤußern dieſen beyden aͤhnlich iſt. Findeſt du einen ſolchen — aber ſchwerlich, ſchwerlich wirſt du ihn finden, wenn du auch Jahre lang ſu- cheſt — ſo iſt das Auffallende in der Aehnlichkeit ihrer Phyſiognomien nicht der Charakter derjeni- gen Geiſteseigenſchaft, die ſie zu außerordentlichen Menſchen macht. Um dich noch weniger zu ir- ren, ſo horche und ſchaue auf die entſcheidenden Momente, wo das Außerordentliche dieſer Charaktere in Bewegung und Aktivitaͤt iſt. Abſtrahire dir ſcharf die Linie, die aus der Bewegung der Muskeln in dieſem Momente entſteht, und vergleiche die aus beyden Geſichtern in dieſem Momente ſich ergebenden Linien. Wenn auch dieſe ſich aͤhnlich ſind — ſo fuße auf die Aehnlichkeit des Geiſtes. Findeſt du einen ganz ungewoͤhnlichen Zug an einem außerordentlichen Menſchen — und gerade dieſen an einem eben ſo außerordentlichen und keinem andern — ſo wird
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II. Abſchnitt. V. Fragment.
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herzuſagen: und wenn man nicht mehr fortkommen kann, ſo ſieht man im Texte wieder nach. So
lerne ich Geſichter auswendig. Ohne dieſe Uebung wird der Beobachtungsgeiſt immer ſtumpf blei-
ben, und nie zu einer Art von Souveraͤnitaͤt gelangen, die ihm zum phyſiognomiſchen Studium
ſchlechterdings noͤthig iſt.
Wenn du nun ſo ein charakteriſtiſches Geſicht durchſtudiert haſt, ſo horche und ſchau einen,
zween, drey Tage auf alle und jede Geſichter, die dir immer begegnen moͤgen — und laß vors erſte
alle alle vorbeygehen, die nicht treffende Zuͤge der Aehnlichkeit mit dem durchſtudierten haben. Und
damit du dieſe Aehnlichkeiten leichter findeſt, ſo ſchaue vors erſte nur auf die Stirne — wie die
Aehnlichkeit der Stirne, ſo die Aehnlichkeit der uͤbrigen Zuͤge. Das ganze Geheimniß des
phyſiognomiſchen Findens und Beobachtens beſteht in der Vereinfachung, Entbloͤßung, Heraushe-
bung einzelner Hauptgrundzuͤge, die man ſuchen will. — Findeſt du nun z. E. alſo eine aͤhnliche
Stirn, hiemit auch nach unſerer Vorausſetzung ein aͤhnliches Geſicht — ſo ſuche wiederum dir die-
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gelt — und mache dir ſodann den Charakter des neugefundenen beſonders in dem Punkte, worinn
ſich jener ſo ſehr auszeichnet, zuverlaͤßig bekannt. Findeſt du ganz entſchiedene Aehnlichkeiten
in beyden, ich ſage ganz entſchiedene, ſo biſt du ſicherlich dem phyſiognomiſchen Charakter ihrer auſ-
ſerordentlichen Seite auf der Spur — woferne du ſonſt keinen andern Menſchen ſiehſt, der ohne
dieſe außerordentliche Seite des innerlichen Charakters im aͤußern dieſen beyden aͤhnlich iſt. Findeſt
du einen ſolchen — aber ſchwerlich, ſchwerlich wirſt du ihn finden, wenn du auch Jahre lang ſu-
cheſt — ſo iſt das Auffallende in der Aehnlichkeit ihrer Phyſiognomien nicht der Charakter derjeni-
gen Geiſteseigenſchaft, die ſie zu außerordentlichen Menſchen macht. Um dich noch weniger zu ir-
ren, ſo horche und ſchaue auf die entſcheidenden Momente, wo das Außerordentliche
dieſer Charaktere in Bewegung und Aktivitaͤt iſt. Abſtrahire dir ſcharf die Linie, die aus
der Bewegung der Muskeln in dieſem Momente entſteht, und vergleiche die aus beyden Geſichtern
in dieſem Momente ſich ergebenden Linien. Wenn auch dieſe ſich aͤhnlich ſind — ſo fuße auf die
Aehnlichkeit des Geiſtes. Findeſt du einen ganz ungewoͤhnlichen Zug an einem außerordentlichen
Menſchen — und gerade dieſen an einem eben ſo außerordentlichen und keinem andern — ſo wird
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/176>, abgerufen am 22.11.2024.
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