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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber das Studium der Physiognomik.
Studiums nöthig ist. Jch weiß zum voraus, daß, wenn ich nun mit allem möglichen Nachden-
ken einige Bogen drüber weggeschrieben habe, und alles gesagt zu haben glaube, was ich sagen woll-
te, dennoch manche Lücke übrig bleiben wird; und so sehr ich immer auf die möglichste Bestimmtheit
im Vortrage gezielt haben werde, ich dennoch manchem unbestimmt werde scheinen müssen. -- Frey-
lich bald auf allen Blättern der drey vorigen Bände ist schon theils ausdrücklich, theils neben hin
davon geredet. Aber Ein Buch ist nicht hinreichend, die Anweisung von allen Seiten vollständig
zu machen. Vollständiges also wird kein Vernünftiger hierüber in Fragmenten erwarten. Doch
will ich thun, was ich kann. -- Nicht Jhnen, scharfsinniger Beobachter, Regeln zu geben -- son-
dern nur Regeln zur Prüfung vorzulegen. Jch lege sie Jhnen vor -- weil Sie physiognomischen
Sinn haben, zeichnen können, und erfinderisch genug sind, durch mancherley Hülfsmittel das Stu-
dium der Physiognomik zu erleichtern: Jhnen, weil ich hoffe, durch Sie einen Monarchen, der
es werth wäre, Unterstützer und Beförderer der allermenschlichsten Wissenschaft zu seyn, zu Anstal-
ten, dieß Studium zu erleichtern, veranlassen zu können.

Wenn die Physiognomik werden soll, was sie werden kann, so ist die Erörterung keiner
Frage so nöthig, als diese: Wie muß sie studiert werden? -- Pfuscherey in der Physiognomik ist
vielleicht unter allen Pfuschereyen die gefährlichste -- denn sie macht immer wenigstens zween Men-
schen unruhig und unglücklich, den Beurtheiler und den Beurtheilten -- Wie weit führt oft ein ein-
ziges schiefes Urtheil -- und wie viel weiter eine falsche Regel, die nicht von den mannichfaltigsten
Erfahrungen abgezogen ist? und am weitesten -- falsche Anweisung, die zu falschen Regeln verlei-
tet -- So lange also, als es immer möglich war, schob ich es auf -- über die Art und Weise, wie
der Physiognomist sich bilden soll, etwas niederzuschreiben. Einzelne Beobachtungen sollen nicht
ohne die möglichste Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit dem Publikum vorgetragen werden -- viel
weniger Anweisungen, Beobachtungen zu machen! Vielleicht hat die Logik kein weiteres Feld der
Uebung, als die Physiognomik -- Man kann gegen unrichtige Verfahrensweise, und unrichtige
Schlüsse kaum genug auf seiner Hut seyn. Sie sind so leicht gemacht, und führen so schnell zu den
gefährlichsten Jrrthümern! Nicht genug kann also der Physiognomist vor falschen Wegen gewarnt;
nicht genug die mannichfaltigste Beobachtungsweise empfohlen; nicht genug jeder unlogische
Kopf von dem Studium der Physiognomik weggeschreckt werden! O die unberufenen Physiogno-

misten,
S 2

Ueber das Studium der Phyſiognomik.
Studiums noͤthig iſt. Jch weiß zum voraus, daß, wenn ich nun mit allem moͤglichen Nachden-
ken einige Bogen druͤber weggeſchrieben habe, und alles geſagt zu haben glaube, was ich ſagen woll-
te, dennoch manche Luͤcke uͤbrig bleiben wird; und ſo ſehr ich immer auf die moͤglichſte Beſtimmtheit
im Vortrage gezielt haben werde, ich dennoch manchem unbeſtimmt werde ſcheinen muͤſſen. — Frey-
lich bald auf allen Blaͤttern der drey vorigen Baͤnde iſt ſchon theils ausdruͤcklich, theils neben hin
davon geredet. Aber Ein Buch iſt nicht hinreichend, die Anweiſung von allen Seiten vollſtaͤndig
zu machen. Vollſtaͤndiges alſo wird kein Vernuͤnftiger hieruͤber in Fragmenten erwarten. Doch
will ich thun, was ich kann. — Nicht Jhnen, ſcharfſinniger Beobachter, Regeln zu geben — ſon-
dern nur Regeln zur Pruͤfung vorzulegen. Jch lege ſie Jhnen vor — weil Sie phyſiognomiſchen
Sinn haben, zeichnen koͤnnen, und erfinderiſch genug ſind, durch mancherley Huͤlfsmittel das Stu-
dium der Phyſiognomik zu erleichtern: Jhnen, weil ich hoffe, durch Sie einen Monarchen, der
es werth waͤre, Unterſtuͤtzer und Befoͤrderer der allermenſchlichſten Wiſſenſchaft zu ſeyn, zu Anſtal-
ten, dieß Studium zu erleichtern, veranlaſſen zu koͤnnen.

Wenn die Phyſiognomik werden ſoll, was ſie werden kann, ſo iſt die Eroͤrterung keiner
Frage ſo noͤthig, als dieſe: Wie muß ſie ſtudiert werden? — Pfuſcherey in der Phyſiognomik iſt
vielleicht unter allen Pfuſchereyen die gefaͤhrlichſte — denn ſie macht immer wenigſtens zween Men-
ſchen unruhig und ungluͤcklich, den Beurtheiler und den Beurtheilten — Wie weit fuͤhrt oft ein ein-
ziges ſchiefes Urtheil — und wie viel weiter eine falſche Regel, die nicht von den mannichfaltigſten
Erfahrungen abgezogen iſt? und am weiteſten — falſche Anweiſung, die zu falſchen Regeln verlei-
tet — So lange alſo, als es immer moͤglich war, ſchob ich es auf — uͤber die Art und Weiſe, wie
der Phyſiognomiſt ſich bilden ſoll, etwas niederzuſchreiben. Einzelne Beobachtungen ſollen nicht
ohne die moͤglichſte Genauigkeit und Gewiſſenhaftigkeit dem Publikum vorgetragen werden — viel
weniger Anweiſungen, Beobachtungen zu machen! Vielleicht hat die Logik kein weiteres Feld der
Uebung, als die Phyſiognomik — Man kann gegen unrichtige Verfahrensweiſe, und unrichtige
Schluͤſſe kaum genug auf ſeiner Hut ſeyn. Sie ſind ſo leicht gemacht, und fuͤhren ſo ſchnell zu den
gefaͤhrlichſten Jrrthuͤmern! Nicht genug kann alſo der Phyſiognomiſt vor falſchen Wegen gewarnt;
nicht genug die mannichfaltigſte Beobachtungsweiſe empfohlen; nicht genug jeder unlogiſche
Kopf von dem Studium der Phyſiognomik weggeſchreckt werden! O die unberufenen Phyſiogno-

miſten,
S 2
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[139/0169] Ueber das Studium der Phyſiognomik. Studiums noͤthig iſt. Jch weiß zum voraus, daß, wenn ich nun mit allem moͤglichen Nachden- ken einige Bogen druͤber weggeſchrieben habe, und alles geſagt zu haben glaube, was ich ſagen woll- te, dennoch manche Luͤcke uͤbrig bleiben wird; und ſo ſehr ich immer auf die moͤglichſte Beſtimmtheit im Vortrage gezielt haben werde, ich dennoch manchem unbeſtimmt werde ſcheinen muͤſſen. — Frey- lich bald auf allen Blaͤttern der drey vorigen Baͤnde iſt ſchon theils ausdruͤcklich, theils neben hin davon geredet. Aber Ein Buch iſt nicht hinreichend, die Anweiſung von allen Seiten vollſtaͤndig zu machen. Vollſtaͤndiges alſo wird kein Vernuͤnftiger hieruͤber in Fragmenten erwarten. Doch will ich thun, was ich kann. — Nicht Jhnen, ſcharfſinniger Beobachter, Regeln zu geben — ſon- dern nur Regeln zur Pruͤfung vorzulegen. Jch lege ſie Jhnen vor — weil Sie phyſiognomiſchen Sinn haben, zeichnen koͤnnen, und erfinderiſch genug ſind, durch mancherley Huͤlfsmittel das Stu- dium der Phyſiognomik zu erleichtern: Jhnen, weil ich hoffe, durch Sie einen Monarchen, der es werth waͤre, Unterſtuͤtzer und Befoͤrderer der allermenſchlichſten Wiſſenſchaft zu ſeyn, zu Anſtal- ten, dieß Studium zu erleichtern, veranlaſſen zu koͤnnen. Wenn die Phyſiognomik werden ſoll, was ſie werden kann, ſo iſt die Eroͤrterung keiner Frage ſo noͤthig, als dieſe: Wie muß ſie ſtudiert werden? — Pfuſcherey in der Phyſiognomik iſt vielleicht unter allen Pfuſchereyen die gefaͤhrlichſte — denn ſie macht immer wenigſtens zween Men- ſchen unruhig und ungluͤcklich, den Beurtheiler und den Beurtheilten — Wie weit fuͤhrt oft ein ein- ziges ſchiefes Urtheil — und wie viel weiter eine falſche Regel, die nicht von den mannichfaltigſten Erfahrungen abgezogen iſt? und am weiteſten — falſche Anweiſung, die zu falſchen Regeln verlei- tet — So lange alſo, als es immer moͤglich war, ſchob ich es auf — uͤber die Art und Weiſe, wie der Phyſiognomiſt ſich bilden ſoll, etwas niederzuſchreiben. Einzelne Beobachtungen ſollen nicht ohne die moͤglichſte Genauigkeit und Gewiſſenhaftigkeit dem Publikum vorgetragen werden — viel weniger Anweiſungen, Beobachtungen zu machen! Vielleicht hat die Logik kein weiteres Feld der Uebung, als die Phyſiognomik — Man kann gegen unrichtige Verfahrensweiſe, und unrichtige Schluͤſſe kaum genug auf ſeiner Hut ſeyn. Sie ſind ſo leicht gemacht, und fuͤhren ſo ſchnell zu den gefaͤhrlichſten Jrrthuͤmern! Nicht genug kann alſo der Phyſiognomiſt vor falſchen Wegen gewarnt; nicht genug die mannichfaltigſte Beobachtungsweiſe empfohlen; nicht genug jeder unlogiſche Kopf von dem Studium der Phyſiognomik weggeſchreckt werden! O die unberufenen Phyſiogno- miſten, S 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/169>, abgerufen am 23.11.2024.