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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. V. Fragment.

Jch zeichne mir die einfachen Linien, die Umrisse der Lautschwätzer und der Stillschwei-
ger -- der Lacher und Lächler, der Tongeber und Tonnehmer im Geiste -- ich zeichne sie mit dem
Bleystift -- auf ein Blatt -- Jch sammle so -- die Sammlung mehrt sich -- Jch vergleiche; ich
reihe -- ich urtheile; ich erstaune. Jch finde in aller Welt dieselben Zeichen, wie dieselben Sa-
chen.
Allenthalben einerley Menschheit, und einerley Zeichen der Menschheit. Wie muß mit je-
dem Schritte, den ich in die Welt hinein thue, meine Menschenkenntniß wachsen! Gewißheit wer-
den und Freude! Weisheit werden und Liebe! Segen werden für mich und meine Brüder!

Fünftes Fragment.
Ueber das Studium der Physiognomik, an Herrn Grafen von
Thun in Wien.

Sie erlauben mir, verehrungswürdiger Graf, Jhnen meine Gedanken über das Studium der
Physiognomik
mitzutheilen? Mich dünkt, alle Abhandlungen dieser Art haben weder Licht, noch
Bestimmtheit, noch Kraft genug -- wenn sie nur überhaupt geschrieben sind, und sich nicht an je-
mand besonders richten, von dem man voraus weiß, daß er jedes Wort prüft und prüfen kann; --
daß er sogleich die unmittelbare Anwendung davon macht, und jede Dunkelheit, Zweydeutigkeit,
Unbestimmtheit merkt. -- Jch wünschte sogleich alle wichtigern Fragmente dieses Werkes, bevor
sie unter die Presse gehen, jedesmal einem scharfprüfenden Ohre vorlesen zu können -- da ich nun
das selten kann, so denke ich mir oft ein solches als gegenwärtig, wenn ich mein Manuscript unmit-
telbar vor der Absendung noch einmal mit aller mir möglichen Aufmerksamkeit und Zusammenfas-
sung aller Geisteskraft durchgehe. -- Wie nöthig war mir die Vergegenwärtigung eines solchen
Ohres bey diesem Fragmente? ... Alles, was ich über die Physiognomik geschrieben, ist so wich-
tig nicht, als das, was ich nun über das Studium der Physiognomik, über die Methode zu phy-
siognomiren zu sagen gedenke. Wenn mir diese Anweisung gelingt, so ist mir mein ganzes Unter-
nehmen gelungen; und doch fühle ich die unbeschreibliche Schwierigkeit, mich hierüber so deutlich,
so bestimmt und so vollständig zu erklären, als es zur Beförderung des ächten physiognomischen

Studiums
II. Abſchnitt. V. Fragment.

Jch zeichne mir die einfachen Linien, die Umriſſe der Lautſchwaͤtzer und der Stillſchwei-
ger — der Lacher und Laͤchler, der Tongeber und Tonnehmer im Geiſte — ich zeichne ſie mit dem
Bleyſtift — auf ein Blatt — Jch ſammle ſo — die Sammlung mehrt ſich — Jch vergleiche; ich
reihe — ich urtheile; ich erſtaune. Jch finde in aller Welt dieſelben Zeichen, wie dieſelben Sa-
chen.
Allenthalben einerley Menſchheit, und einerley Zeichen der Menſchheit. Wie muß mit je-
dem Schritte, den ich in die Welt hinein thue, meine Menſchenkenntniß wachſen! Gewißheit wer-
den und Freude! Weisheit werden und Liebe! Segen werden fuͤr mich und meine Bruͤder!

Fuͤnftes Fragment.
Ueber das Studium der Phyſiognomik, an Herrn Grafen von
Thun in Wien.

Sie erlauben mir, verehrungswuͤrdiger Graf, Jhnen meine Gedanken uͤber das Studium der
Phyſiognomik
mitzutheilen? Mich duͤnkt, alle Abhandlungen dieſer Art haben weder Licht, noch
Beſtimmtheit, noch Kraft genug — wenn ſie nur uͤberhaupt geſchrieben ſind, und ſich nicht an je-
mand beſonders richten, von dem man voraus weiß, daß er jedes Wort pruͤft und pruͤfen kann; —
daß er ſogleich die unmittelbare Anwendung davon macht, und jede Dunkelheit, Zweydeutigkeit,
Unbeſtimmtheit merkt. — Jch wuͤnſchte ſogleich alle wichtigern Fragmente dieſes Werkes, bevor
ſie unter die Preſſe gehen, jedesmal einem ſcharfpruͤfenden Ohre vorleſen zu koͤnnen — da ich nun
das ſelten kann, ſo denke ich mir oft ein ſolches als gegenwaͤrtig, wenn ich mein Manuſcript unmit-
telbar vor der Abſendung noch einmal mit aller mir moͤglichen Aufmerkſamkeit und Zuſammenfaſ-
ſung aller Geiſteskraft durchgehe. — Wie noͤthig war mir die Vergegenwaͤrtigung eines ſolchen
Ohres bey dieſem Fragmente? ... Alles, was ich uͤber die Phyſiognomik geſchrieben, iſt ſo wich-
tig nicht, als das, was ich nun uͤber das Studium der Phyſiognomik, uͤber die Methode zu phy-
ſiognomiren zu ſagen gedenke. Wenn mir dieſe Anweiſung gelingt, ſo iſt mir mein ganzes Unter-
nehmen gelungen; und doch fuͤhle ich die unbeſchreibliche Schwierigkeit, mich hieruͤber ſo deutlich,
ſo beſtimmt und ſo vollſtaͤndig zu erklaͤren, als es zur Befoͤrderung des aͤchten phyſiognomiſchen

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[138/0168] II. Abſchnitt. V. Fragment. Jch zeichne mir die einfachen Linien, die Umriſſe der Lautſchwaͤtzer und der Stillſchwei- ger — der Lacher und Laͤchler, der Tongeber und Tonnehmer im Geiſte — ich zeichne ſie mit dem Bleyſtift — auf ein Blatt — Jch ſammle ſo — die Sammlung mehrt ſich — Jch vergleiche; ich reihe — ich urtheile; ich erſtaune. Jch finde in aller Welt dieſelben Zeichen, wie dieſelben Sa- chen. Allenthalben einerley Menſchheit, und einerley Zeichen der Menſchheit. Wie muß mit je- dem Schritte, den ich in die Welt hinein thue, meine Menſchenkenntniß wachſen! Gewißheit wer- den und Freude! Weisheit werden und Liebe! Segen werden fuͤr mich und meine Bruͤder! Fuͤnftes Fragment. Ueber das Studium der Phyſiognomik, an Herrn Grafen von Thun in Wien. Sie erlauben mir, verehrungswuͤrdiger Graf, Jhnen meine Gedanken uͤber das Studium der Phyſiognomik mitzutheilen? Mich duͤnkt, alle Abhandlungen dieſer Art haben weder Licht, noch Beſtimmtheit, noch Kraft genug — wenn ſie nur uͤberhaupt geſchrieben ſind, und ſich nicht an je- mand beſonders richten, von dem man voraus weiß, daß er jedes Wort pruͤft und pruͤfen kann; — daß er ſogleich die unmittelbare Anwendung davon macht, und jede Dunkelheit, Zweydeutigkeit, Unbeſtimmtheit merkt. — Jch wuͤnſchte ſogleich alle wichtigern Fragmente dieſes Werkes, bevor ſie unter die Preſſe gehen, jedesmal einem ſcharfpruͤfenden Ohre vorleſen zu koͤnnen — da ich nun das ſelten kann, ſo denke ich mir oft ein ſolches als gegenwaͤrtig, wenn ich mein Manuſcript unmit- telbar vor der Abſendung noch einmal mit aller mir moͤglichen Aufmerkſamkeit und Zuſammenfaſ- ſung aller Geiſteskraft durchgehe. — Wie noͤthig war mir die Vergegenwaͤrtigung eines ſolchen Ohres bey dieſem Fragmente? ... Alles, was ich uͤber die Phyſiognomik geſchrieben, iſt ſo wich- tig nicht, als das, was ich nun uͤber das Studium der Phyſiognomik, uͤber die Methode zu phy- ſiognomiren zu ſagen gedenke. Wenn mir dieſe Anweiſung gelingt, ſo iſt mir mein ganzes Unter- nehmen gelungen; und doch fuͤhle ich die unbeſchreibliche Schwierigkeit, mich hieruͤber ſo deutlich, ſo beſtimmt und ſo vollſtaͤndig zu erklaͤren, als es zur Befoͤrderung des aͤchten phyſiognomiſchen Studiums

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/168>, abgerufen am 23.11.2024.