Zweytes Fragment. Ueber Freyheit und Nichtfreyheit des Menschen.
"Ordnung und Empfindung der Muskeln" (sagt der scharfsinnige und edel freydenkende Ver- fasser der Gedanken im vorhergehenden Fragmente) "Ordnung und Empfindung der Muskeln" (und hiemit auch nach seinem Sinne -- Form des Ganzen) "bestimmt die Denk- und Empfindungs- "art eines Menschen. Gerade so, wie der Pflug tief oder flach ans Land oder vom Lande geht, nach- "dem sein Kringel lang oder kurz, hoch oder niedrig gesteckt ist, oder wie der Klang der Geige sich "darnach verändert, ob der Steg mit der Stimme gleich steht, oder nicht; so hängt unsere Denk- "und Empfindungsart von der Bildung und Ordnung der Muskeln ab. Wir sind in der Hand des "Schöpfers nichts anders, als ein Werkzeug. Wie er unsre Wirbel stellt, so klingen wir ihm, und "wie er unsre Muskeln bildet und ordnet, so denken und empfinden wir."
Ueber diesen äußerst wichtigen und tiefeingreifenden Punkt denke ich so: Der Mensch ist frey, wie der Vogel im Käfig. Er hat seinen bestimmten unüberschreitbaren Wirkungs- und Em- pfindungskreis. Jeder hat, wie einen besondern Umriß seines Körpers, so einen bestimmten unver- änderlichen Spielraum. Es gehört zu Helvetius unverzeihlichen Sünden wider die Vernunft und Erfahrung, die Erziehung zum einzigen Mittel der allgemeinsten Bildung und Umbildung ange- geben zu haben. Revoltanteres hat vielleicht dieß Jahrhundert kein philosophischer Kopf der Welt aufgedrungen. -- Wer kann's läugnen, daß gewisse Köpfe, gewisse Bildungen -- gewisser Em- pfindungen, Talente, Wirksamkeiten von Natur fähig, von Natur unfähig sind?
Einen Menschen zwingen wollen, daß er denke und empfinde wie ich -- heißt, ihm meine Stirn und Nase aufdringen wollen; heißt, dem Adler Langsamkeit der Schnecke, der Schnecke Schnelligkeit des Adlers gebieten wollen. Siehe da die Philosophie unsrer luzianischen Geister! wie der Soldat unter dem Prügel des Offiziers -- seine Jndividualität verlieren und nur präsentiren soll -- was sein Nachbar, oder sein Vormann präsentirt, so soll man unter ihrer Peitsche gravitä- tisch Schritt für Schritt einherheucheln! -- Wahre Kenntniß des Menschen -- physiognomisches Studium allein macht solche -- Tyranneyen ohne ihres gleichen unmöglich. Jeder Mensch
kann
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Zweytes Fragment. Ueber Freyheit und Nichtfreyheit des Menſchen.
„Ordnung und Empfindung der Muskeln“ (ſagt der ſcharfſinnige und edel freydenkende Ver- faſſer der Gedanken im vorhergehenden Fragmente) „Ordnung und Empfindung der Muskeln“ (und hiemit auch nach ſeinem Sinne — Form des Ganzen) „beſtimmt die Denk- und Empfindungs- „art eines Menſchen. Gerade ſo, wie der Pflug tief oder flach ans Land oder vom Lande geht, nach- „dem ſein Kringel lang oder kurz, hoch oder niedrig geſteckt iſt, oder wie der Klang der Geige ſich „darnach veraͤndert, ob der Steg mit der Stimme gleich ſteht, oder nicht; ſo haͤngt unſere Denk- „und Empfindungsart von der Bildung und Ordnung der Muskeln ab. Wir ſind in der Hand des „Schoͤpfers nichts anders, als ein Werkzeug. Wie er unſre Wirbel ſtellt, ſo klingen wir ihm, und „wie er unſre Muskeln bildet und ordnet, ſo denken und empfinden wir.“
Ueber dieſen aͤußerſt wichtigen und tiefeingreifenden Punkt denke ich ſo: Der Menſch iſt frey, wie der Vogel im Kaͤfig. Er hat ſeinen beſtimmten unuͤberſchreitbaren Wirkungs- und Em- pfindungskreis. Jeder hat, wie einen beſondern Umriß ſeines Koͤrpers, ſo einen beſtimmten unver- aͤnderlichen Spielraum. Es gehoͤrt zu Helvetius unverzeihlichen Suͤnden wider die Vernunft und Erfahrung, die Erziehung zum einzigen Mittel der allgemeinſten Bildung und Umbildung ange- geben zu haben. Revoltanteres hat vielleicht dieß Jahrhundert kein philoſophiſcher Kopf der Welt aufgedrungen. — Wer kann’s laͤugnen, daß gewiſſe Koͤpfe, gewiſſe Bildungen — gewiſſer Em- pfindungen, Talente, Wirkſamkeiten von Natur faͤhig, von Natur unfaͤhig ſind?
Einen Menſchen zwingen wollen, daß er denke und empfinde wie ich — heißt, ihm meine Stirn und Naſe aufdringen wollen; heißt, dem Adler Langſamkeit der Schnecke, der Schnecke Schnelligkeit des Adlers gebieten wollen. Siehe da die Philoſophie unſrer luzianiſchen Geiſter! wie der Soldat unter dem Pruͤgel des Offiziers — ſeine Jndividualitaͤt verlieren und nur praͤſentiren ſoll — was ſein Nachbar, oder ſein Vormann praͤſentirt, ſo ſoll man unter ihrer Peitſche gravitaͤ- tiſch Schritt fuͤr Schritt einherheucheln! — Wahre Kenntniß des Menſchen — phyſiognomiſches Studium allein macht ſolche — Tyranneyen ohne ihres gleichen unmoͤglich. Jeder Menſch
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Zweytes Fragment.
Ueber Freyheit und Nichtfreyheit des Menſchen.
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faſſer der Gedanken im vorhergehenden Fragmente) „Ordnung und Empfindung der Muskeln“
(und hiemit auch nach ſeinem Sinne — Form des Ganzen) „beſtimmt die Denk- und Empfindungs-
„art eines Menſchen. Gerade ſo, wie der Pflug tief oder flach ans Land oder vom Lande geht, nach-
„dem ſein Kringel lang oder kurz, hoch oder niedrig geſteckt iſt, oder wie der Klang der Geige ſich
„darnach veraͤndert, ob der Steg mit der Stimme gleich ſteht, oder nicht; ſo haͤngt unſere Denk-
„und Empfindungsart von der Bildung und Ordnung der Muskeln ab. Wir ſind in der Hand des
„Schoͤpfers nichts anders, als ein Werkzeug. Wie er unſre Wirbel ſtellt, ſo klingen wir ihm, und
„wie er unſre Muskeln bildet und ordnet, ſo denken und empfinden wir.“
Ueber dieſen aͤußerſt wichtigen und tiefeingreifenden Punkt denke ich ſo: Der Menſch iſt
frey, wie der Vogel im Kaͤfig. Er hat ſeinen beſtimmten unuͤberſchreitbaren Wirkungs- und Em-
pfindungskreis. Jeder hat, wie einen beſondern Umriß ſeines Koͤrpers, ſo einen beſtimmten unver-
aͤnderlichen Spielraum. Es gehoͤrt zu Helvetius unverzeihlichen Suͤnden wider die Vernunft und
Erfahrung, die Erziehung zum einzigen Mittel der allgemeinſten Bildung und Umbildung ange-
geben zu haben. Revoltanteres hat vielleicht dieß Jahrhundert kein philoſophiſcher Kopf der Welt
aufgedrungen. — Wer kann’s laͤugnen, daß gewiſſe Koͤpfe, gewiſſe Bildungen — gewiſſer Em-
pfindungen, Talente, Wirkſamkeiten von Natur faͤhig, von Natur unfaͤhig ſind?
Einen Menſchen zwingen wollen, daß er denke und empfinde wie ich — heißt, ihm meine
Stirn und Naſe aufdringen wollen; heißt, dem Adler Langſamkeit der Schnecke, der Schnecke
Schnelligkeit des Adlers gebieten wollen. Siehe da die Philoſophie unſrer luzianiſchen Geiſter! wie
der Soldat unter dem Pruͤgel des Offiziers — ſeine Jndividualitaͤt verlieren und nur praͤſentiren
ſoll — was ſein Nachbar, oder ſein Vormann praͤſentirt, ſo ſoll man unter ihrer Peitſche gravitaͤ-
tiſch Schritt fuͤr Schritt einherheucheln! — Wahre Kenntniß des Menſchen — phyſiognomiſches
Studium allein macht ſolche — Tyranneyen ohne ihres gleichen unmoͤglich. Jeder Menſch
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/143>, abgerufen am 23.11.2024.
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