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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. X. Fragment. Genie.
giebt. Wie jeder Körper das Licht auf eine ihm eigene Art zurückwirft, die etwas von der Natur
dieses Körpers, wo nicht an sich hat, doch ausdrückt -- so giebt jedes Auge dem Lichtstral, der von
ihm ausgeht, eine eigene Direktion und Fibration; -- das Auge des Genies giebt ihm eine solche --
die spürbarere Sensation auf jedes Auge macht, als jedes ungenialische Auge. Von dieser Art Au-
gen sind, aus ihren Porträten zu schließen, z. E. die vom Cardinal Retz, Vandyk, Raphael. Der
Blick des Genies in seiner höchsten Treffenheit, wenn ich so sagen darf, ist -- beynahe wunder-
wirkend -- unwiderstehlich, allanerkannt, göttlich -- Jhm beugen sich die Knie, ihm schlagen sich
die Augen nieder -- ihm gehorchen -- wie einer Gottheit -- alle, die er trifft. Durch diesen Blick
voll allempfindbarer Ueberlegenheit, "wie Rousseau so wohl sagt, verwandeln wahre Genieen die
"andern in sich selbst. Jhre Macht ist in einem weiten Umfange geschäfftig, innerhalb dessen man
"ihnen nicht widerstehen kann; kaum lernt man sie kennen, so gelüstet es uns sie nachzuahmen; und
"in ihrer Hoheit ziehen sie alles, was sie umringt, zu sich hinauf."



Das wahre, volle, ganze Genie, das Licht bringt, wohin es seinen Blick wirft; Meister ist,
wo sich sein Fuß hinsetzt; das Eden und Wüsten vor sich oder hinter sich zurück läßt -- das anzieht,
wenn's anziehen, zurückstößt, wenn's zurückstoßen will -- das kann, was es will, und nur das
will, was es kann; das nie sich kleiner fühlt, als wenn's am größten ist, weil es noch unendlich
höhere Welten voll Genieen und Kräften und Wirkungen über sich findet -- je höher es sich hinauf
schwingt, nur um soviel höhere Höhen entdeckt -- das Genie, gewurzelt in die Erde wie Nebukadne-
zars Traumbaum, und unter dessen weit verbreiteten Aesten alle Thiere des Feldes, Schattendürstend
sich lagern -- Das Genie, das immer empor strebt, wenn tausend Widerkräfte an ihm heraufkrab-
beln, es nach der Erde herunter zu reissen; das den Schmeichler zu Boden blitzt, den Verächter
verachtet -- ins Bubengelächter -- mit der Bonhomie eines Reichen, den man arm lügt, hineinlä-
chelt -- Das Genie, das über alles herrscht, wie Daniels heilige Wächter schnellen vollendenden
Rathschluß über alles giebt -- Das Urgenie, dessen Denken -- Anschauen, dessen Empfindung --
That, dessen That unwidertreiblich und unaustilgbar ist: -- das hat seinen Hauptausdruck, und das
Siegel Gottes -- nicht im obern Theil der Stirne -- nicht im Blick und Augausdruck allein --
sondern vornehmlich in einer breiten, jedoch über dem Sattel etwas gerundeten, gedrängten, etwas

vorge-

I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie.
giebt. Wie jeder Koͤrper das Licht auf eine ihm eigene Art zuruͤckwirft, die etwas von der Natur
dieſes Koͤrpers, wo nicht an ſich hat, doch ausdruͤckt — ſo giebt jedes Auge dem Lichtſtral, der von
ihm ausgeht, eine eigene Direktion und Fibration; — das Auge des Genies giebt ihm eine ſolche —
die ſpuͤrbarere Senſation auf jedes Auge macht, als jedes ungenialiſche Auge. Von dieſer Art Au-
gen ſind, aus ihren Portraͤten zu ſchließen, z. E. die vom Cardinal Retz, Vandyk, Raphael. Der
Blick des Genies in ſeiner hoͤchſten Treffenheit, wenn ich ſo ſagen darf, iſt — beynahe wunder-
wirkend — unwiderſtehlich, allanerkannt, goͤttlich — Jhm beugen ſich die Knie, ihm ſchlagen ſich
die Augen nieder — ihm gehorchen — wie einer Gottheit — alle, die er trifft. Durch dieſen Blick
voll allempfindbarer Ueberlegenheit, „wie Rouſſeau ſo wohl ſagt, verwandeln wahre Genieen die
„andern in ſich ſelbſt. Jhre Macht iſt in einem weiten Umfange geſchaͤfftig, innerhalb deſſen man
„ihnen nicht widerſtehen kann; kaum lernt man ſie kennen, ſo geluͤſtet es uns ſie nachzuahmen; und
„in ihrer Hoheit ziehen ſie alles, was ſie umringt, zu ſich hinauf.“



Das wahre, volle, ganze Genie, das Licht bringt, wohin es ſeinen Blick wirft; Meiſter iſt,
wo ſich ſein Fuß hinſetzt; das Eden und Wuͤſten vor ſich oder hinter ſich zuruͤck laͤßt — das anzieht,
wenn’s anziehen, zuruͤckſtoͤßt, wenn’s zuruͤckſtoßen will — das kann, was es will, und nur das
will, was es kann; das nie ſich kleiner fuͤhlt, als wenn’s am groͤßten iſt, weil es noch unendlich
hoͤhere Welten voll Genieen und Kraͤften und Wirkungen uͤber ſich findet — je hoͤher es ſich hinauf
ſchwingt, nur um ſoviel hoͤhere Hoͤhen entdeckt — das Genie, gewurzelt in die Erde wie Nebukadne-
zars Traumbaum, und unter deſſen weit verbreiteten Aeſten alle Thiere des Feldes, Schattenduͤrſtend
ſich lagern — Das Genie, das immer empor ſtrebt, wenn tauſend Widerkraͤfte an ihm heraufkrab-
beln, es nach der Erde herunter zu reiſſen; das den Schmeichler zu Boden blitzt, den Veraͤchter
verachtet — ins Bubengelaͤchter — mit der Bonhomie eines Reichen, den man arm luͤgt, hineinlaͤ-
chelt — Das Genie, das uͤber alles herrſcht, wie Daniels heilige Waͤchter ſchnellen vollendenden
Rathſchluß uͤber alles giebt — Das Urgenie, deſſen Denken — Anſchauen, deſſen Empfindung —
That, deſſen That unwidertreiblich und unaustilgbar iſt: — das hat ſeinen Hauptausdruck, und das
Siegel Gottes — nicht im obern Theil der Stirne — nicht im Blick und Augausdruck allein —
ſondern vornehmlich in einer breiten, jedoch uͤber dem Sattel etwas gerundeten, gedraͤngten, etwas

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[90/0118] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. giebt. Wie jeder Koͤrper das Licht auf eine ihm eigene Art zuruͤckwirft, die etwas von der Natur dieſes Koͤrpers, wo nicht an ſich hat, doch ausdruͤckt — ſo giebt jedes Auge dem Lichtſtral, der von ihm ausgeht, eine eigene Direktion und Fibration; — das Auge des Genies giebt ihm eine ſolche — die ſpuͤrbarere Senſation auf jedes Auge macht, als jedes ungenialiſche Auge. Von dieſer Art Au- gen ſind, aus ihren Portraͤten zu ſchließen, z. E. die vom Cardinal Retz, Vandyk, Raphael. Der Blick des Genies in ſeiner hoͤchſten Treffenheit, wenn ich ſo ſagen darf, iſt — beynahe wunder- wirkend — unwiderſtehlich, allanerkannt, goͤttlich — Jhm beugen ſich die Knie, ihm ſchlagen ſich die Augen nieder — ihm gehorchen — wie einer Gottheit — alle, die er trifft. Durch dieſen Blick voll allempfindbarer Ueberlegenheit, „wie Rouſſeau ſo wohl ſagt, verwandeln wahre Genieen die „andern in ſich ſelbſt. Jhre Macht iſt in einem weiten Umfange geſchaͤfftig, innerhalb deſſen man „ihnen nicht widerſtehen kann; kaum lernt man ſie kennen, ſo geluͤſtet es uns ſie nachzuahmen; und „in ihrer Hoheit ziehen ſie alles, was ſie umringt, zu ſich hinauf.“ Das wahre, volle, ganze Genie, das Licht bringt, wohin es ſeinen Blick wirft; Meiſter iſt, wo ſich ſein Fuß hinſetzt; das Eden und Wuͤſten vor ſich oder hinter ſich zuruͤck laͤßt — das anzieht, wenn’s anziehen, zuruͤckſtoͤßt, wenn’s zuruͤckſtoßen will — das kann, was es will, und nur das will, was es kann; das nie ſich kleiner fuͤhlt, als wenn’s am groͤßten iſt, weil es noch unendlich hoͤhere Welten voll Genieen und Kraͤften und Wirkungen uͤber ſich findet — je hoͤher es ſich hinauf ſchwingt, nur um ſoviel hoͤhere Hoͤhen entdeckt — das Genie, gewurzelt in die Erde wie Nebukadne- zars Traumbaum, und unter deſſen weit verbreiteten Aeſten alle Thiere des Feldes, Schattenduͤrſtend ſich lagern — Das Genie, das immer empor ſtrebt, wenn tauſend Widerkraͤfte an ihm heraufkrab- beln, es nach der Erde herunter zu reiſſen; das den Schmeichler zu Boden blitzt, den Veraͤchter verachtet — ins Bubengelaͤchter — mit der Bonhomie eines Reichen, den man arm luͤgt, hineinlaͤ- chelt — Das Genie, das uͤber alles herrſcht, wie Daniels heilige Waͤchter ſchnellen vollendenden Rathſchluß uͤber alles giebt — Das Urgenie, deſſen Denken — Anſchauen, deſſen Empfindung — That, deſſen That unwidertreiblich und unaustilgbar iſt: — das hat ſeinen Hauptausdruck, und das Siegel Gottes — nicht im obern Theil der Stirne — nicht im Blick und Augausdruck allein — ſondern vornehmlich in einer breiten, jedoch uͤber dem Sattel etwas gerundeten, gedraͤngten, etwas vorge-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/118>, abgerufen am 06.05.2024.