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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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XI. Abschnitt. II. Fragment.

Sie können, dahin gewendet, leicht durch die Reizbarkeit ihrer Nerven, durch die Unfähig-
keit zu denken, zu vernünfteln, und zu scheiden -- durch das Uebergewicht von Empfindung --
die hochfliegendsten, unwiederbringlichsten Schwärmer werden.

Jhre Liebe, so innig und tief sie ist, ist sehr wandelbar. Jhr Haß ist beynah unheilbar --
nur durch Uebergewicht schmeichelnder Liebe langsam zu vertilgen. Männer würken mehr in die
Tiefe -- Weiber mehr in die Höhe.

Männer umfassen mehr das Ganze; Weiber bemerken mehr das Einzelne; belustigen
sich mehr am Detail und Auseinanderlesen der Jngredienzien zum Ganzen. Der Mann trinkt
mit offenem Blicke einen grauenvollen Gewitterhimmel, und fühlt sich froh und ernst, wenn die
Majestät der furchtbaren Wolken ihn überströmt.

Das Weib zittert dem Blitz und dem kommenden Donner entgegen, und verschließt sich
bebend in sich selber, oder in den Arm des Mannes.

Wo Männer Einen Sonnenstral sehen, da ergötzen sich die Weiber am siebenfarbigen
Regenbogen.
Das Weib sieht ihn auf Einer Stelle, den Bogen des Friedens -- der Mann ver-
folgt seine Millionen Stralen durch den ganzen Halbzirkel, in dem sie sich spiegeln.

Das Weib lächelt, wo der Mann lacht; und weint, wo der Mann schweigt; und
jammert, wo der Mann weint; und verzweifelt, wo der Mann jammert; und hat doch oft
mehr Glauben, als der Mann.

Ein Mann ohne Religion ist ein kränkelndes Wesen, das sich bereden will, ge-
sund zu seyn,
und keines Arztes zu bedürfen. Aber ein Weib ohne Religion -- ist ein wü-
tendes, abscheuliches Geschöpfe.

Ein Weib mit einem Bart ist nicht so widrig, als ein Weib, das den Freygeist spielt.
Sie sind zur Andacht und Religion gebildet, die weiblichen Geschöpfe. Jhnen erscheint
der Auferstandene zuerst
-- aber sie muß er auch abhalten, ihn nicht zu früh und zu brünstig zu
umarmen -- Rühre mich nicht an .. -- Alles neue, ungewohnte, ergreift sie schnell --
führt sie weit weg.

Sie vergessen alles im Gefühle, in der Nähe dessen, was sie lieben.

Sie
XI. Abſchnitt. II. Fragment.

Sie koͤnnen, dahin gewendet, leicht durch die Reizbarkeit ihrer Nerven, durch die Unfaͤhig-
keit zu denken, zu vernuͤnfteln, und zu ſcheiden — durch das Uebergewicht von Empfindung —
die hochfliegendſten, unwiederbringlichſten Schwaͤrmer werden.

Jhre Liebe, ſo innig und tief ſie iſt, iſt ſehr wandelbar. Jhr Haß iſt beynah unheilbar —
nur durch Uebergewicht ſchmeichelnder Liebe langſam zu vertilgen. Maͤnner wuͤrken mehr in die
Tiefe — Weiber mehr in die Hoͤhe.

Maͤnner umfaſſen mehr das Ganze; Weiber bemerken mehr das Einzelne; beluſtigen
ſich mehr am Detail und Auseinanderleſen der Jngredienzien zum Ganzen. Der Mann trinkt
mit offenem Blicke einen grauenvollen Gewitterhimmel, und fuͤhlt ſich froh und ernſt, wenn die
Majeſtaͤt der furchtbaren Wolken ihn uͤberſtroͤmt.

Das Weib zittert dem Blitz und dem kommenden Donner entgegen, und verſchließt ſich
bebend in ſich ſelber, oder in den Arm des Mannes.

Wo Maͤnner Einen Sonnenſtral ſehen, da ergoͤtzen ſich die Weiber am ſiebenfarbigen
Regenbogen.
Das Weib ſieht ihn auf Einer Stelle, den Bogen des Friedens — der Mann ver-
folgt ſeine Millionen Stralen durch den ganzen Halbzirkel, in dem ſie ſich ſpiegeln.

Das Weib laͤchelt, wo der Mann lacht; und weint, wo der Mann ſchweigt; und
jammert, wo der Mann weint; und verzweifelt, wo der Mann jammert; und hat doch oft
mehr Glauben, als der Mann.

Ein Mann ohne Religion iſt ein kraͤnkelndes Weſen, das ſich bereden will, ge-
ſund zu ſeyn,
und keines Arztes zu beduͤrfen. Aber ein Weib ohne Religion — iſt ein wuͤ-
tendes, abſcheuliches Geſchoͤpfe.

Ein Weib mit einem Bart iſt nicht ſo widrig, als ein Weib, das den Freygeiſt ſpielt.
Sie ſind zur Andacht und Religion gebildet, die weiblichen Geſchoͤpfe. Jhnen erſcheint
der Auferſtandene zuerſt
— aber ſie muß er auch abhalten, ihn nicht zu fruͤh und zu bruͤnſtig zu
umarmen — Ruͤhre mich nicht an .. — Alles neue, ungewohnte, ergreift ſie ſchnell
fuͤhrt ſie weit weg.

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Sie
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[296/0470] XI. Abſchnitt. II. Fragment. Sie koͤnnen, dahin gewendet, leicht durch die Reizbarkeit ihrer Nerven, durch die Unfaͤhig- keit zu denken, zu vernuͤnfteln, und zu ſcheiden — durch das Uebergewicht von Empfindung — die hochfliegendſten, unwiederbringlichſten Schwaͤrmer werden. Jhre Liebe, ſo innig und tief ſie iſt, iſt ſehr wandelbar. Jhr Haß iſt beynah unheilbar — nur durch Uebergewicht ſchmeichelnder Liebe langſam zu vertilgen. Maͤnner wuͤrken mehr in die Tiefe — Weiber mehr in die Hoͤhe. Maͤnner umfaſſen mehr das Ganze; Weiber bemerken mehr das Einzelne; beluſtigen ſich mehr am Detail und Auseinanderleſen der Jngredienzien zum Ganzen. Der Mann trinkt mit offenem Blicke einen grauenvollen Gewitterhimmel, und fuͤhlt ſich froh und ernſt, wenn die Majeſtaͤt der furchtbaren Wolken ihn uͤberſtroͤmt. Das Weib zittert dem Blitz und dem kommenden Donner entgegen, und verſchließt ſich bebend in ſich ſelber, oder in den Arm des Mannes. Wo Maͤnner Einen Sonnenſtral ſehen, da ergoͤtzen ſich die Weiber am ſiebenfarbigen Regenbogen. Das Weib ſieht ihn auf Einer Stelle, den Bogen des Friedens — der Mann ver- folgt ſeine Millionen Stralen durch den ganzen Halbzirkel, in dem ſie ſich ſpiegeln. Das Weib laͤchelt, wo der Mann lacht; und weint, wo der Mann ſchweigt; und jammert, wo der Mann weint; und verzweifelt, wo der Mann jammert; und hat doch oft mehr Glauben, als der Mann. Ein Mann ohne Religion iſt ein kraͤnkelndes Weſen, das ſich bereden will, ge- ſund zu ſeyn, und keines Arztes zu beduͤrfen. Aber ein Weib ohne Religion — iſt ein wuͤ- tendes, abſcheuliches Geſchoͤpfe. Ein Weib mit einem Bart iſt nicht ſo widrig, als ein Weib, das den Freygeiſt ſpielt. Sie ſind zur Andacht und Religion gebildet, die weiblichen Geſchoͤpfe. Jhnen erſcheint der Auferſtandene zuerſt — aber ſie muß er auch abhalten, ihn nicht zu fruͤh und zu bruͤnſtig zu umarmen — Ruͤhre mich nicht an .. — Alles neue, ungewohnte, ergreift ſie ſchnell — fuͤhrt ſie weit weg. Sie vergeſſen alles im Gefuͤhle, in der Naͤhe deſſen, was ſie lieben. Sie

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/470>, abgerufen am 23.11.2024.