Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Allgemeine Betrachtungen.

Wenn dein Aug einfältig ist, so wird dein ganzer Leib heiter seyn, gleich als wenn
ein Licht dich mit seinem Glanz umleuchtete; und was ist physiognomischer Sinn anders,
als diese Einfalt des Auges? Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu se-
hen; und je mehr du Seele siehest, wird dir nicht allemal um so viel heiliger der Körper, ihr Ge-
wand, seyn? Was? Mensch! mit diesem Sinne? diesem Gefühle, das dir Gott gab -- du -- ent-
heiligen solltest du dieß Heilige Gottes? Entheiligen -- das heißt: erniedrigen? verunstalten?
kränken? unempfindlich machen? Wem eine gute oder große Physiognomie nicht Ehrfurcht
und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einflößt, der soll von physiognomischem Sinne sprechen?
Der physiognomische Sinn ist Offenbarung des Geistes. Nichts erhält die Keuschheit so
rein; nichts verwahret so vor viehischer Lüsternheit -- nichts erhöhet deine Seele mehr, und die
Seele, die's dir ansieht, daß sie dir heilig ist. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefühl der Liebe
Liebe -- aber Liebe, die nicht das ihrige sucht. Liebe, die rein ist, wie die Liebe der Engel, die sich
im Himmel umarmen -- -- Fragment eines Fragmentes,

[Abbildung]

Zweytes
O o 3
Allgemeine Betrachtungen.

Wenn dein Aug einfaͤltig iſt, ſo wird dein ganzer Leib heiter ſeyn, gleich als wenn
ein Licht dich mit ſeinem Glanz umleuchtete; und was iſt phyſiognomiſcher Sinn anders,
als dieſe Einfalt des Auges? Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu ſe-
hen; und je mehr du Seele ſieheſt, wird dir nicht allemal um ſo viel heiliger der Koͤrper, ihr Ge-
wand, ſeyn? Was? Menſch! mit dieſem Sinne? dieſem Gefuͤhle, das dir Gott gab — du — ent-
heiligen ſollteſt du dieß Heilige Gottes? Entheiligen — das heißt: erniedrigen? verunſtalten?
kraͤnken? unempfindlich machen? Wem eine gute oder große Phyſiognomie nicht Ehrfurcht
und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einfloͤßt, der ſoll von phyſiognomiſchem Sinne ſprechen?
Der phyſiognomiſche Sinn iſt Offenbarung des Geiſtes. Nichts erhaͤlt die Keuſchheit ſo
rein; nichts verwahret ſo vor viehiſcher Luͤſternheit — nichts erhoͤhet deine Seele mehr, und die
Seele, die’s dir anſieht, daß ſie dir heilig iſt. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefuͤhl der Liebe
Liebe — aber Liebe, die nicht das ihrige ſucht. Liebe, die rein iſt, wie die Liebe der Engel, die ſich
im Himmel umarmen — — Fragment eines Fragmentes,

[Abbildung]

Zweytes
O o 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0467" n="293"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Allgemeine Betrachtungen.</hi> </fw><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Wenn dein Aug einfa&#x0364;ltig i&#x017F;t, &#x017F;o wird dein ganzer Leib heiter &#x017F;eyn, gleich als wenn<lb/>
ein Licht dich mit &#x017F;einem Glanz umleuchtete;</hi> und was i&#x017F;t <hi rendition="#fr">phy&#x017F;iognomi&#x017F;cher Sinn</hi> anders,<lb/>
als die&#x017F;e <hi rendition="#fr">Einfalt des Auges?</hi> Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu &#x017F;e-<lb/>
hen; und je mehr du Seele &#x017F;iehe&#x017F;t, wird dir nicht allemal um &#x017F;o viel heiliger der Ko&#x0364;rper, ihr Ge-<lb/>
wand, &#x017F;eyn? Was? Men&#x017F;ch! mit die&#x017F;em Sinne? die&#x017F;em Gefu&#x0364;hle, das dir Gott gab &#x2014; du &#x2014; ent-<lb/>
heiligen &#x017F;ollte&#x017F;t du dieß Heilige Gottes? <hi rendition="#fr">Entheiligen</hi> &#x2014; das heißt: <hi rendition="#fr">erniedrigen? verun&#x017F;talten?<lb/>
kra&#x0364;nken? unempfindlich machen?</hi> Wem eine gute oder große Phy&#x017F;iognomie nicht Ehrfurcht<lb/>
und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einflo&#x0364;ßt, der &#x017F;oll von phy&#x017F;iognomi&#x017F;chem Sinne &#x017F;prechen?<lb/><hi rendition="#fr">Der phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Sinn i&#x017F;t Offenbarung des Gei&#x017F;tes.</hi> Nichts erha&#x0364;lt die Keu&#x017F;chheit &#x017F;o<lb/>
rein; nichts verwahret &#x017F;o vor viehi&#x017F;cher Lu&#x0364;&#x017F;ternheit &#x2014; nichts erho&#x0364;het deine Seele mehr, und die<lb/>
Seele, die&#x2019;s dir an&#x017F;ieht, daß &#x017F;ie dir heilig i&#x017F;t. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefu&#x0364;hl der Liebe<lb/>
Liebe &#x2014; aber Liebe, die nicht das ihrige &#x017F;ucht. Liebe, die rein i&#x017F;t, wie die Liebe der Engel, die &#x017F;ich<lb/>
im Himmel umarmen &#x2014; &#x2014; Fragment eines Fragmentes,</p><lb/>
          <figure/>
        </div>
        <fw place="bottom" type="sig">O o 3</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Zweytes</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0467] Allgemeine Betrachtungen. Wenn dein Aug einfaͤltig iſt, ſo wird dein ganzer Leib heiter ſeyn, gleich als wenn ein Licht dich mit ſeinem Glanz umleuchtete; und was iſt phyſiognomiſcher Sinn anders, als dieſe Einfalt des Auges? Nicht die Seele ohne den Leib, aber in dem Leibe die Seele zu ſe- hen; und je mehr du Seele ſieheſt, wird dir nicht allemal um ſo viel heiliger der Koͤrper, ihr Ge- wand, ſeyn? Was? Menſch! mit dieſem Sinne? dieſem Gefuͤhle, das dir Gott gab — du — ent- heiligen ſollteſt du dieß Heilige Gottes? Entheiligen — das heißt: erniedrigen? verunſtalten? kraͤnken? unempfindlich machen? Wem eine gute oder große Phyſiognomie nicht Ehrfurcht und eine Liebe, die nicht beleidigen kann, einfloͤßt, der ſoll von phyſiognomiſchem Sinne ſprechen? Der phyſiognomiſche Sinn iſt Offenbarung des Geiſtes. Nichts erhaͤlt die Keuſchheit ſo rein; nichts verwahret ſo vor viehiſcher Luͤſternheit — nichts erhoͤhet deine Seele mehr, und die Seele, die’s dir anſieht, daß ſie dir heilig iſt. Anblick der Kraft erweckt Ehrfurcht. Gefuͤhl der Liebe Liebe — aber Liebe, die nicht das ihrige ſucht. Liebe, die rein iſt, wie die Liebe der Engel, die ſich im Himmel umarmen — — Fragment eines Fragmentes, [Abbildung] Zweytes O o 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/467
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/467>, abgerufen am 22.11.2024.