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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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XI. Abschnitt. I. Fragment.
und Geist entdecken? Wer kann eher den Verstand bis auf den Punkt verfolgen, wo er sich von
dem Herzen zu scheiden scheint?

Wer eher -- die Jmagination im Domino der Empfindung erkennen? Wer eher Buhlerey
von Liebe, und Liebe von Freundschaft unterscheiden? Wer fühlt tiefer, inniger, ehrfurchtsvoller das
Heilige der Unschuld? das Göttliche reiner Weiblichkeit? Wer mehr unheilige Koketterie, die aller
Schamhaftigkeit Blicke wendet und schließt? -- Wie oft wird er verachtend sich wenden von der
angebetetsten Schönen? Dieser unleidliche Stolz ihres Schweigens? diese innerlichen kraftlosen An-
maßungen ihres gespannten Redens? diese Fadheit ihrer, Elend und Armuth hoch überfliegenden,
Augen? diese gebieterische Nase? diese von Geistlosigkeit schlaffe, durch Verachtung schiefe, durch
Hohngelächter des Neides blaulicht schwarze, durch Jntrigue und Schalkheit halb verbißne Lippe --
Alles dieß -- und wie vieles andere mehr wird euch verwahren gegen allen schädlichen Reiz ihrer
schaamlosen Brust! Wie innig fühlt's ein Mensch von reinem physiognomischen Sinne, daß er sich
nicht tiefer erniedrigen könnte, als wenn er sich von so einem Gesichte bestricken ließ -- Dieß sey
ein Beyspiel von tausenden.

Aber wenn dir dann nun eine edle, reine, weibliche Schönheit erscheint, voll Unschuld und voll
Seele -- ganz Liebe und Liebenswürdigkeit -- die eben so schnell gefühlt werden muß, als sichtbar
schnell sie alles Fühlbare mit ihrem innern Sinne fühlt; du auf ihrer großbogigten Stirne die uner-
meßliche Empfänglichkeit aller Belehrungen, die ein weiser Mann ihr geben kann, erblickest; erbli-
ckest in ihrer gedrängten doch ungespannten Augenbraune eine uneröffnete und unerschöpfliche Fund-
grube von Weisheit; den reinlichsten und feinsten Geschmack in ihrer zart umrißnen oder beschnitte-
nen Nase; die theilnehmendste Güte des Herzens -- wie sie sich durch ihre unbeflecklichen Zähne
über die reinsten, holdesten Lippen ergießt; -- du in jedem Hauche Demuth und Gefälligkeit, jeder
Bewegung ihres Mundes Huld und Sanftheit; jedem Ton ihrer Stimme Adel und Weisheit; je-
dem Blick ihrer nicht aufgesperrten, nicht zusinkenden -- sondern so gerade vor sich hinblickenden
und schnell sanft sich wendenden Augen eine Seele siehest, die deine Seele schwesterlich zu umfassen
scheint -- du sie über Gemählde und Beschreibung Meilenweit erhaben siehest -- du mit offnen
Sinnen alle die Herrlichkeiten ihrer geistvollen Bildung wie das milde Goldlicht der herbstlichen
Abendsonne in dich trinkest -- wird dann dein so hochgepriesener physiognomischer Sinn dir nicht
Sünde oder Verderben, oder beydes zugleich werden?

Wenn

XI. Abſchnitt. I. Fragment.
und Geiſt entdecken? Wer kann eher den Verſtand bis auf den Punkt verfolgen, wo er ſich von
dem Herzen zu ſcheiden ſcheint?

Wer eher — die Jmagination im Domino der Empfindung erkennen? Wer eher Buhlerey
von Liebe, und Liebe von Freundſchaft unterſcheiden? Wer fuͤhlt tiefer, inniger, ehrfurchtsvoller das
Heilige der Unſchuld? das Goͤttliche reiner Weiblichkeit? Wer mehr unheilige Koketterie, die aller
Schamhaftigkeit Blicke wendet und ſchließt? — Wie oft wird er verachtend ſich wenden von der
angebetetſten Schoͤnen? Dieſer unleidliche Stolz ihres Schweigens? dieſe innerlichen kraftloſen An-
maßungen ihres geſpannten Redens? dieſe Fadheit ihrer, Elend und Armuth hoch uͤberfliegenden,
Augen? dieſe gebieteriſche Naſe? dieſe von Geiſtloſigkeit ſchlaffe, durch Verachtung ſchiefe, durch
Hohngelaͤchter des Neides blaulicht ſchwarze, durch Jntrigue und Schalkheit halb verbißne Lippe —
Alles dieß — und wie vieles andere mehr wird euch verwahren gegen allen ſchaͤdlichen Reiz ihrer
ſchaamloſen Bruſt! Wie innig fuͤhlt’s ein Menſch von reinem phyſiognomiſchen Sinne, daß er ſich
nicht tiefer erniedrigen koͤnnte, als wenn er ſich von ſo einem Geſichte beſtricken ließ — Dieß ſey
ein Beyſpiel von tauſenden.

Aber wenn dir dann nun eine edle, reine, weibliche Schoͤnheit erſcheint, voll Unſchuld und voll
Seele — ganz Liebe und Liebenswuͤrdigkeit — die eben ſo ſchnell gefuͤhlt werden muß, als ſichtbar
ſchnell ſie alles Fuͤhlbare mit ihrem innern Sinne fuͤhlt; du auf ihrer großbogigten Stirne die uner-
meßliche Empfaͤnglichkeit aller Belehrungen, die ein weiſer Mann ihr geben kann, erblickeſt; erbli-
ckeſt in ihrer gedraͤngten doch ungeſpannten Augenbraune eine uneroͤffnete und unerſchoͤpfliche Fund-
grube von Weisheit; den reinlichſten und feinſten Geſchmack in ihrer zart umrißnen oder beſchnitte-
nen Naſe; die theilnehmendſte Guͤte des Herzens — wie ſie ſich durch ihre unbeflecklichen Zaͤhne
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Bewegung ihres Mundes Huld und Sanftheit; jedem Ton ihrer Stimme Adel und Weisheit; je-
dem Blick ihrer nicht aufgeſperrten, nicht zuſinkenden — ſondern ſo gerade vor ſich hinblickenden
und ſchnell ſanft ſich wendenden Augen eine Seele ſieheſt, die deine Seele ſchweſterlich zu umfaſſen
ſcheint — du ſie uͤber Gemaͤhlde und Beſchreibung Meilenweit erhaben ſieheſt — du mit offnen
Sinnen alle die Herrlichkeiten ihrer geiſtvollen Bildung wie das milde Goldlicht der herbſtlichen
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Suͤnde oder Verderben, oder beydes zugleich werden?

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/466>, abgerufen am 19.05.2024.