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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Revision des zweyten Bandes.
schen Wohlfahrt will ich befördern, Gott weiß es. Jede menschliche Mißgestalt soll den wohlge-
bildeten Menschen kränken -- jede Wohlgestalt ihm Freude machen. Also bitt' ich Einerseits --
im Namen aller mißgebildeten Nebengeschöpfe, oder vielmehr im Namen dessen, der nach seinem un-
erforschlichen Wohlgefallen in des Einen Wohlgestalt seine Herrlichkeit offenbaret hat, und in des
andern Mißgestalt, oder Schwachheit, wie seine Kraft schon itzt, so seine Herrlichkeit durch über-
schwengliche Vergütung noch künftig offenbaren wird, -- Menschen! lacht nicht unbrüderlich eurer
mißgebildeten Brüder! ... Wohlgebildete! habt Jhr Euch selber wohlgebildet? ... Jst etwas
in der Welt Gabe, Geschenk, reines Geschenk -- wenn's gute, edle, schöne Bildung nicht ist?
was habt ihr empfangen -- wenn ihr das nicht empfangen habt? was seyd ihr, das ihr nicht durch
den seyd, der alles in allen ist? ... Und ihr, denen Wollen und Kraft gegeben ist, auf die mo-
ralische und physische Bildung des Menschen Einfluß zu haben -- wahrhaftig! all Eure noch so
glänzende, und wenn ihr wollt, noch so nützliche Preisaufgaben von Korn und Oel und Most und
Mist, alten und neuen Völkern, Sprachen und Zungen -- der wahren Gestalt des Erdballs und
der wahren Parallaxe, u. s. w. reichen nicht an die Wichtigkeit und Gemeinnützigkeit der Untersu-
chung -- "Welche Professionen, Handwerker, Künste, müssen, so wie sie itzt geübt und getrieben
"werden, viele tausend Menschen mißbilden? -- Woher die Mißbildung? wie wäre derselben, un-
"beschadet der Kunst, vorzubeugen?"

4.

Zum III. Fragment.

"Noch immer könnte man fragen, (sagt ein verständiger Recensent,) ob der, der von Kind-
"heit an eine sehr üble Gesichtsbildung, die dem Physiognomisten nichts Gutes von seinem Charak-
"ter ahnden lasse -- ob der sich nicht seiner Bildung zu schämen in Versuchung kommen könnte?"
Der Recensent äußert bey dieser Gelegenheit einige Gedanken, die angeführt zu werden verdienen.
"Schämen, sagt er, kann man sich eigentlich keiner andern Sache, als die man verschuldet hat --
"würde ich mich dessen schämen, wenn ich arm, wenn ich in der Hütte -- nicht im Zimmer gebohren
"wäre? Sollte ich mich denn einer Sache schämen, die mir, so wie alles andere, ohne Vorsehung, und
"ohne den Wink des großen Bilders nicht hätte zufallen können?" -- -- Antwort: wie nennet man
die Unbehaglichkeit, in der sich ein Mensch mit einem unverschuldeten ekelhaften Leibesschäden be-

findet,

Reviſion des zweyten Bandes.
ſchen Wohlfahrt will ich befoͤrdern, Gott weiß es. Jede menſchliche Mißgeſtalt ſoll den wohlge-
bildeten Menſchen kraͤnken — jede Wohlgeſtalt ihm Freude machen. Alſo bitt’ ich Einerſeits —
im Namen aller mißgebildeten Nebengeſchoͤpfe, oder vielmehr im Namen deſſen, der nach ſeinem un-
erforſchlichen Wohlgefallen in des Einen Wohlgeſtalt ſeine Herrlichkeit offenbaret hat, und in des
andern Mißgeſtalt, oder Schwachheit, wie ſeine Kraft ſchon itzt, ſo ſeine Herrlichkeit durch uͤber-
ſchwengliche Verguͤtung noch kuͤnftig offenbaren wird, — Menſchen! lacht nicht unbruͤderlich eurer
mißgebildeten Bruͤder! ... Wohlgebildete! habt Jhr Euch ſelber wohlgebildet? ... Jſt etwas
in der Welt Gabe, Geſchenk, reines Geſchenk — wenn’s gute, edle, ſchoͤne Bildung nicht iſt?
was habt ihr empfangen — wenn ihr das nicht empfangen habt? was ſeyd ihr, das ihr nicht durch
den ſeyd, der alles in allen iſt? ... Und ihr, denen Wollen und Kraft gegeben iſt, auf die mo-
raliſche und phyſiſche Bildung des Menſchen Einfluß zu haben — wahrhaftig! all Eure noch ſo
glaͤnzende, und wenn ihr wollt, noch ſo nuͤtzliche Preisaufgaben von Korn und Oel und Moſt und
Miſt, alten und neuen Voͤlkern, Sprachen und Zungen — der wahren Geſtalt des Erdballs und
der wahren Parallaxe, u. ſ. w. reichen nicht an die Wichtigkeit und Gemeinnuͤtzigkeit der Unterſu-
chung — „Welche Profeſſionen, Handwerker, Kuͤnſte, muͤſſen, ſo wie ſie itzt geuͤbt und getrieben
„werden, viele tauſend Menſchen mißbilden? — Woher die Mißbildung? wie waͤre derſelben, un-
„beſchadet der Kunſt, vorzubeugen?“

4.

Zum III. Fragment.

„Noch immer koͤnnte man fragen, (ſagt ein verſtaͤndiger Recenſent,) ob der, der von Kind-
„heit an eine ſehr uͤble Geſichtsbildung, die dem Phyſiognomiſten nichts Gutes von ſeinem Charak-
„ter ahnden laſſe — ob der ſich nicht ſeiner Bildung zu ſchaͤmen in Verſuchung kommen koͤnnte?“
Der Recenſent aͤußert bey dieſer Gelegenheit einige Gedanken, die angefuͤhrt zu werden verdienen.
Schaͤmen, ſagt er, kann man ſich eigentlich keiner andern Sache, als die man verſchuldet hat —
„wuͤrde ich mich deſſen ſchaͤmen, wenn ich arm, wenn ich in der Huͤtte — nicht im Zimmer gebohren
„waͤre? Sollte ich mich denn einer Sache ſchaͤmen, die mir, ſo wie alles andere, ohne Vorſehung, und
„ohne den Wink des großen Bilders nicht haͤtte zufallen koͤnnen?“ — — Antwort: wie nennet man
die Unbehaglichkeit, in der ſich ein Menſch mit einem unverſchuldeten ekelhaften Leibesſchaͤden be-

findet,
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[23/0039] Reviſion des zweyten Bandes. ſchen Wohlfahrt will ich befoͤrdern, Gott weiß es. Jede menſchliche Mißgeſtalt ſoll den wohlge- bildeten Menſchen kraͤnken — jede Wohlgeſtalt ihm Freude machen. Alſo bitt’ ich Einerſeits — im Namen aller mißgebildeten Nebengeſchoͤpfe, oder vielmehr im Namen deſſen, der nach ſeinem un- erforſchlichen Wohlgefallen in des Einen Wohlgeſtalt ſeine Herrlichkeit offenbaret hat, und in des andern Mißgeſtalt, oder Schwachheit, wie ſeine Kraft ſchon itzt, ſo ſeine Herrlichkeit durch uͤber- ſchwengliche Verguͤtung noch kuͤnftig offenbaren wird, — Menſchen! lacht nicht unbruͤderlich eurer mißgebildeten Bruͤder! ... Wohlgebildete! habt Jhr Euch ſelber wohlgebildet? ... Jſt etwas in der Welt Gabe, Geſchenk, reines Geſchenk — wenn’s gute, edle, ſchoͤne Bildung nicht iſt? was habt ihr empfangen — wenn ihr das nicht empfangen habt? was ſeyd ihr, das ihr nicht durch den ſeyd, der alles in allen iſt? ... Und ihr, denen Wollen und Kraft gegeben iſt, auf die mo- raliſche und phyſiſche Bildung des Menſchen Einfluß zu haben — wahrhaftig! all Eure noch ſo glaͤnzende, und wenn ihr wollt, noch ſo nuͤtzliche Preisaufgaben von Korn und Oel und Moſt und Miſt, alten und neuen Voͤlkern, Sprachen und Zungen — der wahren Geſtalt des Erdballs und der wahren Parallaxe, u. ſ. w. reichen nicht an die Wichtigkeit und Gemeinnuͤtzigkeit der Unterſu- chung — „Welche Profeſſionen, Handwerker, Kuͤnſte, muͤſſen, ſo wie ſie itzt geuͤbt und getrieben „werden, viele tauſend Menſchen mißbilden? — Woher die Mißbildung? wie waͤre derſelben, un- „beſchadet der Kunſt, vorzubeugen?“ 4. Zum III. Fragment. „Noch immer koͤnnte man fragen, (ſagt ein verſtaͤndiger Recenſent,) ob der, der von Kind- „heit an eine ſehr uͤble Geſichtsbildung, die dem Phyſiognomiſten nichts Gutes von ſeinem Charak- „ter ahnden laſſe — ob der ſich nicht ſeiner Bildung zu ſchaͤmen in Verſuchung kommen koͤnnte?“ Der Recenſent aͤußert bey dieſer Gelegenheit einige Gedanken, die angefuͤhrt zu werden verdienen. „Schaͤmen, ſagt er, kann man ſich eigentlich keiner andern Sache, als die man verſchuldet hat — „wuͤrde ich mich deſſen ſchaͤmen, wenn ich arm, wenn ich in der Huͤtte — nicht im Zimmer gebohren „waͤre? Sollte ich mich denn einer Sache ſchaͤmen, die mir, ſo wie alles andere, ohne Vorſehung, und „ohne den Wink des großen Bilders nicht haͤtte zufallen koͤnnen?“ — — Antwort: wie nennet man die Unbehaglichkeit, in der ſich ein Menſch mit einem unverſchuldeten ekelhaften Leibesſchaͤden be- findet,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/39>, abgerufen am 24.11.2024.