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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. I. Fragment.
Namen und nach dem Rathschlusse des Vaters, daß er zu rechter Zeit und Stunde dem Va-
ter der Geister alles Fleisches
alles zu Füßen lege -- bis Gott alles in allem sey.

Aber ja! wer weise ist, zu sehen, was er vermag -- der eile, früh am Ziele zu seyn! denn
viel Erste werden die Letzten, viele Letzte die Ersten seyn -- Und -- selig und heilig ist
der, der an der ersten Auferstehung Theil hat; über ihn hat der andere Tod keine
Gewalt.



Alle Menschen sind der Religion fähig, weil sie Menschen sind -- aber nicht alle desselben
Grades von Religion, weil nicht alle Menschengesichter sich gleich sind -- Alle Menschen haben
dieselben Sinnen und Glieder -- aber alle diese Sinnen und Glieder haben doch an jedem Men-
schen besondere Formen und Zeichnungen. So mit der Religion. Alle Religion ist Glaube an
unsichtbare Gottheit und unsichtbare Welten und Diener der Gottheit.
Diese Religion
aber individualisirt sich in jedem nach seiner Form und Organisation. Zwingli, Luther, Cal-
vin, Bellarmin, Zinzendorf
-- und Spinosa sogar -- (denn auch der glaubte noch an eine
Gottheit, und hatte Ehrfurcht vor dem unsichtbaren Wesen aller Wesen -- obwohl seine Gott-
heit -- eine ganz andere war, als die Gottheit unsers Glaubens) -- Alle diese hatten -- Reli-
gion,
schienen es wenigstens zu haben, aber ihre Religion war so verschieden, als es ihre Gesich-
ter waren.



Es ist unsinnig, dem Gewissen einer Nation, Gemeine, Gesellschaft Eine Religionsform --
aufzudringen. Zum äußerlichen Bekenntnisse kann man durch Zwang gebracht werden; zur inner-
lichen Ueberzeugung nicht. Es können nicht alle gleich empfinden, gleich leiden, gleich würken.
Es ist unsinnig, von Calvins spitzem und hartem Kopfe die weiblichreligiose Süßlichkeit der Zin-
zendorfischen
Religionsform -- zu fordern; und unsinnig, Zinzendorf zu beschweren, er soll sei-
ne Religion in Syllogismen auflösen. Die Seligkeit der Religion ist im Wesen der Reli-
gion;
im redlichen Glauben, Lieben, Hoffen Gottes und der unsichtbaren höhern Welt.
Nicht in der individuellen Form. Jch bin ein Mensch so gut als du -- ob ich gleich ein Schwei-
zer bin, und du ein Deutscher bist -- obgleich du blaue Augen hast, ich braune habe -- du eine

kurze,

X. Abſchnitt. I. Fragment.
Namen und nach dem Rathſchluſſe des Vaters, daß er zu rechter Zeit und Stunde dem Va-
ter der Geiſter alles Fleiſches
alles zu Fuͤßen lege — bis Gott alles in allem ſey.

Aber ja! wer weiſe iſt, zu ſehen, was er vermag — der eile, fruͤh am Ziele zu ſeyn! denn
viel Erſte werden die Letzten, viele Letzte die Erſten ſeyn — Und — ſelig und heilig iſt
der, der an der erſten Auferſtehung Theil hat; uͤber ihn hat der andere Tod keine
Gewalt.



Alle Menſchen ſind der Religion faͤhig, weil ſie Menſchen ſind — aber nicht alle deſſelben
Grades von Religion, weil nicht alle Menſchengeſichter ſich gleich ſind — Alle Menſchen haben
dieſelben Sinnen und Glieder — aber alle dieſe Sinnen und Glieder haben doch an jedem Men-
ſchen beſondere Formen und Zeichnungen. So mit der Religion. Alle Religion iſt Glaube an
unſichtbare Gottheit und unſichtbare Welten und Diener der Gottheit.
Dieſe Religion
aber individualiſirt ſich in jedem nach ſeiner Form und Organiſation. Zwingli, Luther, Cal-
vin, Bellarmin, Zinzendorf
— und Spinoſa ſogar — (denn auch der glaubte noch an eine
Gottheit, und hatte Ehrfurcht vor dem unſichtbaren Weſen aller Weſen — obwohl ſeine Gott-
heit — eine ganz andere war, als die Gottheit unſers Glaubens) — Alle dieſe hatten — Reli-
gion,
ſchienen es wenigſtens zu haben, aber ihre Religion war ſo verſchieden, als es ihre Geſich-
ter waren.



Es iſt unſinnig, dem Gewiſſen einer Nation, Gemeine, Geſellſchaft Eine Religionsform —
aufzudringen. Zum aͤußerlichen Bekenntniſſe kann man durch Zwang gebracht werden; zur inner-
lichen Ueberzeugung nicht. Es koͤnnen nicht alle gleich empfinden, gleich leiden, gleich wuͤrken.
Es iſt unſinnig, von Calvins ſpitzem und hartem Kopfe die weiblichreligioſe Suͤßlichkeit der Zin-
zendorfiſchen
Religionsform — zu fordern; und unſinnig, Zinzendorf zu beſchweren, er ſoll ſei-
ne Religion in Syllogismen aufloͤſen. Die Seligkeit der Religion iſt im Weſen der Reli-
gion;
im redlichen Glauben, Lieben, Hoffen Gottes und der unſichtbaren hoͤhern Welt.
Nicht in der individuellen Form. Jch bin ein Menſch ſo gut als du — ob ich gleich ein Schwei-
zer bin, und du ein Deutſcher biſt — obgleich du blaue Augen haſt, ich braune habe — du eine

kurze,
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[240/0388] X. Abſchnitt. I. Fragment. Namen und nach dem Rathſchluſſe des Vaters, daß er zu rechter Zeit und Stunde dem Va- ter der Geiſter alles Fleiſches alles zu Fuͤßen lege — bis Gott alles in allem ſey. Aber ja! wer weiſe iſt, zu ſehen, was er vermag — der eile, fruͤh am Ziele zu ſeyn! denn viel Erſte werden die Letzten, viele Letzte die Erſten ſeyn — Und — ſelig und heilig iſt der, der an der erſten Auferſtehung Theil hat; uͤber ihn hat der andere Tod keine Gewalt. Alle Menſchen ſind der Religion faͤhig, weil ſie Menſchen ſind — aber nicht alle deſſelben Grades von Religion, weil nicht alle Menſchengeſichter ſich gleich ſind — Alle Menſchen haben dieſelben Sinnen und Glieder — aber alle dieſe Sinnen und Glieder haben doch an jedem Men- ſchen beſondere Formen und Zeichnungen. So mit der Religion. Alle Religion iſt Glaube an unſichtbare Gottheit und unſichtbare Welten und Diener der Gottheit. Dieſe Religion aber individualiſirt ſich in jedem nach ſeiner Form und Organiſation. Zwingli, Luther, Cal- vin, Bellarmin, Zinzendorf — und Spinoſa ſogar — (denn auch der glaubte noch an eine Gottheit, und hatte Ehrfurcht vor dem unſichtbaren Weſen aller Weſen — obwohl ſeine Gott- heit — eine ganz andere war, als die Gottheit unſers Glaubens) — Alle dieſe hatten — Reli- gion, ſchienen es wenigſtens zu haben, aber ihre Religion war ſo verſchieden, als es ihre Geſich- ter waren. Es iſt unſinnig, dem Gewiſſen einer Nation, Gemeine, Geſellſchaft Eine Religionsform — aufzudringen. Zum aͤußerlichen Bekenntniſſe kann man durch Zwang gebracht werden; zur inner- lichen Ueberzeugung nicht. Es koͤnnen nicht alle gleich empfinden, gleich leiden, gleich wuͤrken. Es iſt unſinnig, von Calvins ſpitzem und hartem Kopfe die weiblichreligioſe Suͤßlichkeit der Zin- zendorfiſchen Religionsform — zu fordern; und unſinnig, Zinzendorf zu beſchweren, er ſoll ſei- ne Religion in Syllogismen aufloͤſen. Die Seligkeit der Religion iſt im Weſen der Reli- gion; im redlichen Glauben, Lieben, Hoffen Gottes und der unſichtbaren hoͤhern Welt. Nicht in der individuellen Form. Jch bin ein Menſch ſo gut als du — ob ich gleich ein Schwei- zer bin, und du ein Deutſcher biſt — obgleich du blaue Augen haſt, ich braune habe — du eine kurze,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/388>, abgerufen am 22.11.2024.