Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Abschnitt. I. Fragment.
Spiegel dir nicht Entsetzen vor dir selber zurückwirft! daß das offene Aug eines Redlichen dir nicht
Blick des Blitzes ist! -- O -- daß du mein Auge fühltest, wenn es dir wieder einmal begegnet,
wo du's nicht vermuthest! -- ob auch noch -- vielleicht noch Ein, Ein schwacher, dämmernder
Schein von Religionsgefühl -- aus deinem Auge herauszublicken, herauszuweinen seyn möchte?
Ob auch du noch etwas von dem Siegel dessen an deiner Stirne trägest, dessen Werk auch du
bist -- und der sich aller seiner Werke erbarmet.*)



Wenn Genie sich so wenig, als der Blitz am Himmel verbergen und unbezeugt lassen kann,
so kann sich auch lebende Religion und Anlage zu lebender Religion nicht unbezeugt lassen --
denn Religion ist Genie fürs Unsichtbare -- Ahndung des Unsichtbaren im Sichtbaren.



O du, der in diesem stillen Augenblicke diese schöne Morgenröthe am Himmel verbreitet,
die entweder einem herrlichen oder trüben Wintertage vorgeht -- Vater der Natur! wie würkst du
durch die Natur so tief kräftig auf die innersten Tiefen des menschlichen Herzens -- und was ist die
herrlichste Morgenröthe und der Lustausströmendste Wintertag -- gegen Einen Stral deines Lich-
tes, in dem Angesichte des Menschen, der sich deiner mehr freut, als seiner selbst. O daß so ein
Stral heute mir würde ... wie viele hunderte deiner in der Welt zerstreuten Kinder -- wür-
den sich dieses Strals mehr freuen, als sich mein ermuntertes, gerade itzt neuen Einflüssen deiner
Belebung sich öffnendes Herz, itzt am holdesten Goldstral des Morgens freut! --

O du,
*) [Spaltenumbruch]
"Sie wissen, daß ich's nicht ausstehen kann, die
"Menschheit erniedrigt zu sehen; aber wenn ich einen
"Neider, einen Hochmüthigen, einen Zornigen, einen
"Unzüchtigen, einen Verläumder, einen Geizigen, oder
"dergleichen der Gewalt der Obrigkeit entgehende Men-
"schen sehe -- o da möchte ich einem Lamme, einer
"Taube meine Menschheit vertauschen. Sollte ich die-
"se Menschen gelinde strafen; so würd' ich sie in dem
"Augenblicke, da sich ihre Gesinnung in ihrem Ge-
[Spaltenumbruch] "sichte merklich äußert, mahlen, und ihr Bildniß dahin
"hängen lassen, wo man sonst dem Publiko zur warnen-
"den Nachricht Bildnisse aufhängt." -- (Sophiens
Reise I. Th. S. 293.) -- Könnte der Abscheuliche ge-
linder und schärfer gestraft werden -- als durch ein
treues Gemählde seines Gesichtes, im Momente der
That gezeichnet, mit seinem Namen -- und hinge-
hängt -- wo ihr wollt -- an die Kirchthüre -- oder
wo man sonst etc.

X. Abſchnitt. I. Fragment.
Spiegel dir nicht Entſetzen vor dir ſelber zuruͤckwirft! daß das offene Aug eines Redlichen dir nicht
Blick des Blitzes iſt! — O — daß du mein Auge fuͤhlteſt, wenn es dir wieder einmal begegnet,
wo du’s nicht vermutheſt! — ob auch noch — vielleicht noch Ein, Ein ſchwacher, daͤmmernder
Schein von Religionsgefuͤhl — aus deinem Auge herauszublicken, herauszuweinen ſeyn moͤchte?
Ob auch du noch etwas von dem Siegel deſſen an deiner Stirne traͤgeſt, deſſen Werk auch du
biſt — und der ſich aller ſeiner Werke erbarmet.*)



Wenn Genie ſich ſo wenig, als der Blitz am Himmel verbergen und unbezeugt laſſen kann,
ſo kann ſich auch lebende Religion und Anlage zu lebender Religion nicht unbezeugt laſſen —
denn Religion iſt Genie fuͤrs Unſichtbare — Ahndung des Unſichtbaren im Sichtbaren.



O du, der in dieſem ſtillen Augenblicke dieſe ſchoͤne Morgenroͤthe am Himmel verbreitet,
die entweder einem herrlichen oder truͤben Wintertage vorgeht — Vater der Natur! wie wuͤrkſt du
durch die Natur ſo tief kraͤftig auf die innerſten Tiefen des menſchlichen Herzens — und was iſt die
herrlichſte Morgenroͤthe und der Luſtausſtroͤmendſte Wintertag — gegen Einen Stral deines Lich-
tes, in dem Angeſichte des Menſchen, der ſich deiner mehr freut, als ſeiner ſelbſt. O daß ſo ein
Stral heute mir wuͤrde ... wie viele hunderte deiner in der Welt zerſtreuten Kinder — wuͤr-
den ſich dieſes Strals mehr freuen, als ſich mein ermuntertes, gerade itzt neuen Einfluͤſſen deiner
Belebung ſich oͤffnendes Herz, itzt am holdeſten Goldſtral des Morgens freut! —

O du,
*) [Spaltenumbruch]
„Sie wiſſen, daß ich’s nicht ausſtehen kann, die
„Menſchheit erniedrigt zu ſehen; aber wenn ich einen
„Neider, einen Hochmuͤthigen, einen Zornigen, einen
„Unzuͤchtigen, einen Verlaͤumder, einen Geizigen, oder
„dergleichen der Gewalt der Obrigkeit entgehende Men-
„ſchen ſehe — o da moͤchte ich einem Lamme, einer
„Taube meine Menſchheit vertauſchen. Sollte ich die-
„ſe Menſchen gelinde ſtrafen; ſo wuͤrd’ ich ſie in dem
„Augenblicke, da ſich ihre Geſinnung in ihrem Ge-
[Spaltenumbruch]ſichte merklich aͤußert, mahlen, und ihr Bildniß dahin
„haͤngen laſſen, wo man ſonſt dem Publiko zur warnen-
„den Nachricht Bildniſſe aufhaͤngt.“ — (Sophiens
Reiſe I. Th. S. 293.) — Koͤnnte der Abſcheuliche ge-
linder und ſchaͤrfer geſtraft werden — als durch ein
treues Gemaͤhlde ſeines Geſichtes, im Momente der
That gezeichnet, mit ſeinem Namen — und hinge-
haͤngt — wo ihr wollt — an die Kirchthuͤre — oder
wo man ſonſt ꝛc.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0386" n="238"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">I.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
Spiegel dir nicht Ent&#x017F;etzen vor dir &#x017F;elber zuru&#x0364;ckwirft! daß das offene Aug eines Redlichen dir nicht<lb/>
Blick des Blitzes i&#x017F;t! &#x2014; O &#x2014; daß du mein Auge fu&#x0364;hlte&#x017F;t, wenn es dir wieder einmal begegnet,<lb/>
wo du&#x2019;s nicht vermuthe&#x017F;t! &#x2014; ob auch noch &#x2014; vielleicht noch Ein, Ein &#x017F;chwacher, da&#x0364;mmernder<lb/>
Schein von <hi rendition="#fr">Religionsgefu&#x0364;hl</hi> &#x2014; aus deinem Auge herauszublicken, herauszuweinen &#x017F;eyn mo&#x0364;chte?<lb/>
Ob auch du noch etwas von dem Siegel de&#x017F;&#x017F;en an deiner Stirne tra&#x0364;ge&#x017F;t, de&#x017F;&#x017F;en Werk auch du<lb/>
bi&#x017F;t &#x2014; <hi rendition="#fr">und der &#x017F;ich aller &#x017F;einer Werke erbarmet.</hi><note place="foot" n="*)"><cb/><lb/>
&#x201E;Sie wi&#x017F;&#x017F;en, daß ich&#x2019;s nicht aus&#x017F;tehen kann, die<lb/>
&#x201E;Men&#x017F;chheit erniedrigt zu &#x017F;ehen; aber wenn ich einen<lb/>
&#x201E;Neider, einen Hochmu&#x0364;thigen, einen Zornigen, einen<lb/>
&#x201E;Unzu&#x0364;chtigen, einen Verla&#x0364;umder, einen Geizigen, oder<lb/>
&#x201E;dergleichen der Gewalt der Obrigkeit entgehende Men-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chen &#x017F;ehe &#x2014; o da mo&#x0364;chte ich einem Lamme, einer<lb/>
&#x201E;Taube meine Men&#x017F;chheit vertau&#x017F;chen. Sollte ich die-<lb/>
&#x201E;&#x017F;e Men&#x017F;chen gelinde &#x017F;trafen; &#x017F;o wu&#x0364;rd&#x2019; ich &#x017F;ie in dem<lb/>
&#x201E;Augenblicke, <hi rendition="#fr">da &#x017F;ich ihre Ge&#x017F;innung in ihrem Ge-</hi><lb/><cb/>
&#x201E;<hi rendition="#fr">&#x017F;ichte merklich a&#x0364;ußert,</hi> mahlen, und ihr Bildniß <hi rendition="#fr">dahin</hi><lb/>
&#x201E;ha&#x0364;ngen la&#x017F;&#x017F;en, wo man &#x017F;on&#x017F;t dem Publiko zur warnen-<lb/>
&#x201E;den Nachricht Bildni&#x017F;&#x017F;e aufha&#x0364;ngt.&#x201C; &#x2014; (<hi rendition="#fr">Sophiens</hi><lb/>
Rei&#x017F;e <hi rendition="#aq">I.</hi> Th. S. 293.) &#x2014; Ko&#x0364;nnte der Ab&#x017F;cheuliche ge-<lb/>
linder und &#x017F;cha&#x0364;rfer ge&#x017F;traft werden &#x2014; als durch ein<lb/>
treues Gema&#x0364;hlde &#x017F;eines Ge&#x017F;ichtes, im Momente der<lb/>
That gezeichnet, mit &#x017F;einem Namen &#x2014; und hinge-<lb/>
ha&#x0364;ngt &#x2014; wo ihr wollt &#x2014; an die Kirchthu&#x0364;re &#x2014; oder<lb/>
wo man &#x017F;on&#x017F;t &#xA75B;c.</note></p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Wenn <hi rendition="#fr">Genie</hi> &#x017F;ich &#x017F;o wenig, als der Blitz am Himmel verbergen und unbezeugt la&#x017F;&#x017F;en kann,<lb/>
&#x017F;o kann &#x017F;ich auch <hi rendition="#fr">lebende Religion</hi> und <hi rendition="#fr">Anlage zu lebender Religion</hi> nicht unbezeugt la&#x017F;&#x017F;en &#x2014;<lb/>
denn <hi rendition="#fr">Religion</hi> i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Genie fu&#x0364;rs Un&#x017F;ichtbare</hi> &#x2014; Ahndung des Un&#x017F;ichtbaren im Sichtbaren.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>O du, der in die&#x017F;em &#x017F;tillen Augenblicke die&#x017F;e &#x017F;cho&#x0364;ne Morgenro&#x0364;the am Himmel verbreitet,<lb/>
die entweder einem herrlichen oder tru&#x0364;ben Wintertage vorgeht &#x2014; Vater der Natur! wie wu&#x0364;rk&#x017F;t du<lb/>
durch die Natur &#x017F;o tief kra&#x0364;ftig auf die inner&#x017F;ten Tiefen des men&#x017F;chlichen Herzens &#x2014; und was i&#x017F;t die<lb/>
herrlich&#x017F;te Morgenro&#x0364;the und der Lu&#x017F;taus&#x017F;tro&#x0364;mend&#x017F;te Wintertag &#x2014; gegen Einen Stral deines Lich-<lb/>
tes, in dem Ange&#x017F;ichte des Men&#x017F;chen, der &#x017F;ich deiner mehr freut, als &#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t. O daß &#x017F;o ein<lb/>
Stral heute mir wu&#x0364;rde ... wie viele hunderte deiner <hi rendition="#fr">in der Welt zer&#x017F;treuten Kinder</hi> &#x2014; wu&#x0364;r-<lb/>
den &#x017F;ich die&#x017F;es Strals mehr freuen, als &#x017F;ich mein ermuntertes, gerade itzt neuen Einflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en deiner<lb/>
Belebung &#x017F;ich o&#x0364;ffnendes Herz, itzt am holde&#x017F;ten Gold&#x017F;tral des Morgens freut! &#x2014;</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">O du,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0386] X. Abſchnitt. I. Fragment. Spiegel dir nicht Entſetzen vor dir ſelber zuruͤckwirft! daß das offene Aug eines Redlichen dir nicht Blick des Blitzes iſt! — O — daß du mein Auge fuͤhlteſt, wenn es dir wieder einmal begegnet, wo du’s nicht vermutheſt! — ob auch noch — vielleicht noch Ein, Ein ſchwacher, daͤmmernder Schein von Religionsgefuͤhl — aus deinem Auge herauszublicken, herauszuweinen ſeyn moͤchte? Ob auch du noch etwas von dem Siegel deſſen an deiner Stirne traͤgeſt, deſſen Werk auch du biſt — und der ſich aller ſeiner Werke erbarmet. *) Wenn Genie ſich ſo wenig, als der Blitz am Himmel verbergen und unbezeugt laſſen kann, ſo kann ſich auch lebende Religion und Anlage zu lebender Religion nicht unbezeugt laſſen — denn Religion iſt Genie fuͤrs Unſichtbare — Ahndung des Unſichtbaren im Sichtbaren. O du, der in dieſem ſtillen Augenblicke dieſe ſchoͤne Morgenroͤthe am Himmel verbreitet, die entweder einem herrlichen oder truͤben Wintertage vorgeht — Vater der Natur! wie wuͤrkſt du durch die Natur ſo tief kraͤftig auf die innerſten Tiefen des menſchlichen Herzens — und was iſt die herrlichſte Morgenroͤthe und der Luſtausſtroͤmendſte Wintertag — gegen Einen Stral deines Lich- tes, in dem Angeſichte des Menſchen, der ſich deiner mehr freut, als ſeiner ſelbſt. O daß ſo ein Stral heute mir wuͤrde ... wie viele hunderte deiner in der Welt zerſtreuten Kinder — wuͤr- den ſich dieſes Strals mehr freuen, als ſich mein ermuntertes, gerade itzt neuen Einfluͤſſen deiner Belebung ſich oͤffnendes Herz, itzt am holdeſten Goldſtral des Morgens freut! — O du, *) „Sie wiſſen, daß ich’s nicht ausſtehen kann, die „Menſchheit erniedrigt zu ſehen; aber wenn ich einen „Neider, einen Hochmuͤthigen, einen Zornigen, einen „Unzuͤchtigen, einen Verlaͤumder, einen Geizigen, oder „dergleichen der Gewalt der Obrigkeit entgehende Men- „ſchen ſehe — o da moͤchte ich einem Lamme, einer „Taube meine Menſchheit vertauſchen. Sollte ich die- „ſe Menſchen gelinde ſtrafen; ſo wuͤrd’ ich ſie in dem „Augenblicke, da ſich ihre Geſinnung in ihrem Ge- „ſichte merklich aͤußert, mahlen, und ihr Bildniß dahin „haͤngen laſſen, wo man ſonſt dem Publiko zur warnen- „den Nachricht Bildniſſe aufhaͤngt.“ — (Sophiens Reiſe I. Th. S. 293.) — Koͤnnte der Abſcheuliche ge- linder und ſchaͤrfer geſtraft werden — als durch ein treues Gemaͤhlde ſeines Geſichtes, im Momente der That gezeichnet, mit ſeinem Namen — und hinge- haͤngt — wo ihr wollt — an die Kirchthuͤre — oder wo man ſonſt ꝛc.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/386
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/386>, abgerufen am 19.05.2024.