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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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IX. Abschnitt. VI. Fragment.
c. Ein Profil mit gebundenen Haaren. G.
Des III. Ban-
des LXVI.
Tafel. G.

Und nun .. ist denn dieß wohl Göthe? -- der edle, feurige, selbstständige, allwürksa-
me, genialische Göthe? -- Nein. Er ist's wieder nicht; doch scheint er sich uns nä-
hern zu wollen -- Nicht klein ist dieß Gesicht -- gewiß nicht; -- ähnlicher, wenn man will, als das
erste nach Gips -- aber so groß nicht -- und doch ist jenes auch wieder so groß nicht, als die Na-
tur -- Jn diesem Blicke, diesem Munde, dieser Stellung ist doch so unbeschreiblich viel wahres, be-
stimmtes -- einfaches, auf einen festen Punkt hinzielendes -- theilnehmend mit der Kälte ins
Hinschauen dahin gerissener Laune. --

Stirne -- nicht gemein -- aber um außerordentlich zu seyn, müßte sie wenigstens schärfer
umrissen seyn -- Der Uebergang von der Stirne zur Nase hat nicht Schwung, und nicht scharfe Be-
stimmtheit genug. Der Knopf der Nase ist zu flachrund -- das Nasenloch zu ausgehöhlt -- das
Nasenläppchen über dem Loch ist auch etwas zu unbestimmt, um mit diesem (wiewohl nicht wah-
ren) Rücken der Nase und dem Auge zu harmoniren -- Was aber vollends dem Gesichte seine
Großheit und Geisteskraft benimmt, ist -- die Länge des Zwischenraums zwischen Nase und Mund,
die freylich, mahlerisch betrachtet, in Vergleichung mit der Distanz des Nasenläppchens vom Au-
ge -- nicht unrichtig wäre. Aber auch jene Entfernung ist zu lang -- wiewohl sie, an sich betrach-
tet, schön -- und allemal beynahe von großer Würkung ist. Salz der Laune ist auf die Lippen ge-
streut -- unstreitig -- aber die Kleinheit der Oberlippe, und die allzurunde Fleischigkeit der Unter-
lippe benimmt dem Munde unglaublich viel von seiner geschmackvollen und empfindsamen Feinheit.
Ueberhaupt ist offenbar von der Nasenspitze an bis unter den Mund der vornehmste Sitz der Ge-
meinheit dieses Gesichtes -- obgleich der Mund, an sich allein betrachtet, gewiß nicht gemein ist.
Die Höhlung zwischen der Unterlippe und dem Kinnball ist weder tief, noch schwungreich, noch
scharf genug, um Großheit auszudrücken. Vom Auge, der Seele dieses Gesichtes, haben wir
noch nichts gesagt. Freylich nicht Göthens rollendes Feuerrad -- so fähig, von Empfindungs-
glut jeder Art geschmelzt zu werden -- wie viel benimmt diesem die unbestimmt ründliche, matt-
sinkende Linie des untern Augenliedes! Hingegen ist der, durch das Licht neben an ziemlich scharf
sich aushebende, schwarze, kraftvolle Stern, unter diesem geraden (wiewohl abermals unwahren)

Augen-
IX. Abſchnitt. VI. Fragment.
c. Ein Profil mit gebundenen Haaren. G.
Des III. Ban-
des LXVI.
Tafel. G.

Und nun .. iſt denn dieß wohl Goͤthe? — der edle, feurige, ſelbſtſtaͤndige, allwuͤrkſa-
me, genialiſche Goͤthe? — Nein. Er iſt’s wieder nicht; doch ſcheint er ſich uns naͤ-
hern zu wollen — Nicht klein iſt dieß Geſicht — gewiß nicht; — aͤhnlicher, wenn man will, als das
erſte nach Gips — aber ſo groß nicht — und doch iſt jenes auch wieder ſo groß nicht, als die Na-
tur — Jn dieſem Blicke, dieſem Munde, dieſer Stellung iſt doch ſo unbeſchreiblich viel wahres, be-
ſtimmtes — einfaches, auf einen feſten Punkt hinzielendes — theilnehmend mit der Kaͤlte ins
Hinſchauen dahin geriſſener Laune. —

Stirne — nicht gemein — aber um außerordentlich zu ſeyn, muͤßte ſie wenigſtens ſchaͤrfer
umriſſen ſeyn — Der Uebergang von der Stirne zur Naſe hat nicht Schwung, und nicht ſcharfe Be-
ſtimmtheit genug. Der Knopf der Naſe iſt zu flachrund — das Naſenloch zu ausgehoͤhlt — das
Naſenlaͤppchen uͤber dem Loch iſt auch etwas zu unbeſtimmt, um mit dieſem (wiewohl nicht wah-
ren) Ruͤcken der Naſe und dem Auge zu harmoniren — Was aber vollends dem Geſichte ſeine
Großheit und Geiſteskraft benimmt, iſt — die Laͤnge des Zwiſchenraums zwiſchen Naſe und Mund,
die freylich, mahleriſch betrachtet, in Vergleichung mit der Diſtanz des Naſenlaͤppchens vom Au-
ge — nicht unrichtig waͤre. Aber auch jene Entfernung iſt zu lang — wiewohl ſie, an ſich betrach-
tet, ſchoͤn — und allemal beynahe von großer Wuͤrkung iſt. Salz der Laune iſt auf die Lippen ge-
ſtreut — unſtreitig — aber die Kleinheit der Oberlippe, und die allzurunde Fleiſchigkeit der Unter-
lippe benimmt dem Munde unglaublich viel von ſeiner geſchmackvollen und empfindſamen Feinheit.
Ueberhaupt iſt offenbar von der Naſenſpitze an bis unter den Mund der vornehmſte Sitz der Ge-
meinheit dieſes Geſichtes — obgleich der Mund, an ſich allein betrachtet, gewiß nicht gemein iſt.
Die Hoͤhlung zwiſchen der Unterlippe und dem Kinnball iſt weder tief, noch ſchwungreich, noch
ſcharf genug, um Großheit auszudruͤcken. Vom Auge, der Seele dieſes Geſichtes, haben wir
noch nichts geſagt. Freylich nicht Goͤthens rollendes Feuerrad — ſo faͤhig, von Empfindungs-
glut jeder Art geſchmelzt zu werden — wie viel benimmt dieſem die unbeſtimmt ruͤndliche, matt-
ſinkende Linie des untern Augenliedes! Hingegen iſt der, durch das Licht neben an ziemlich ſcharf
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Augen-
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[220/0366] IX. Abſchnitt. VI. Fragment. c. Ein Profil mit gebundenen Haaren. G. Und nun .. iſt denn dieß wohl Goͤthe? — der edle, feurige, ſelbſtſtaͤndige, allwuͤrkſa- me, genialiſche Goͤthe? — Nein. Er iſt’s wieder nicht; doch ſcheint er ſich uns naͤ- hern zu wollen — Nicht klein iſt dieß Geſicht — gewiß nicht; — aͤhnlicher, wenn man will, als das erſte nach Gips — aber ſo groß nicht — und doch iſt jenes auch wieder ſo groß nicht, als die Na- tur — Jn dieſem Blicke, dieſem Munde, dieſer Stellung iſt doch ſo unbeſchreiblich viel wahres, be- ſtimmtes — einfaches, auf einen feſten Punkt hinzielendes — theilnehmend mit der Kaͤlte ins Hinſchauen dahin geriſſener Laune. — Stirne — nicht gemein — aber um außerordentlich zu ſeyn, muͤßte ſie wenigſtens ſchaͤrfer umriſſen ſeyn — Der Uebergang von der Stirne zur Naſe hat nicht Schwung, und nicht ſcharfe Be- ſtimmtheit genug. Der Knopf der Naſe iſt zu flachrund — das Naſenloch zu ausgehoͤhlt — das Naſenlaͤppchen uͤber dem Loch iſt auch etwas zu unbeſtimmt, um mit dieſem (wiewohl nicht wah- ren) Ruͤcken der Naſe und dem Auge zu harmoniren — Was aber vollends dem Geſichte ſeine Großheit und Geiſteskraft benimmt, iſt — die Laͤnge des Zwiſchenraums zwiſchen Naſe und Mund, die freylich, mahleriſch betrachtet, in Vergleichung mit der Diſtanz des Naſenlaͤppchens vom Au- ge — nicht unrichtig waͤre. Aber auch jene Entfernung iſt zu lang — wiewohl ſie, an ſich betrach- tet, ſchoͤn — und allemal beynahe von großer Wuͤrkung iſt. Salz der Laune iſt auf die Lippen ge- ſtreut — unſtreitig — aber die Kleinheit der Oberlippe, und die allzurunde Fleiſchigkeit der Unter- lippe benimmt dem Munde unglaublich viel von ſeiner geſchmackvollen und empfindſamen Feinheit. Ueberhaupt iſt offenbar von der Naſenſpitze an bis unter den Mund der vornehmſte Sitz der Ge- meinheit dieſes Geſichtes — obgleich der Mund, an ſich allein betrachtet, gewiß nicht gemein iſt. Die Hoͤhlung zwiſchen der Unterlippe und dem Kinnball iſt weder tief, noch ſchwungreich, noch ſcharf genug, um Großheit auszudruͤcken. Vom Auge, der Seele dieſes Geſichtes, haben wir noch nichts geſagt. Freylich nicht Goͤthens rollendes Feuerrad — ſo faͤhig, von Empfindungs- glut jeder Art geſchmelzt zu werden — wie viel benimmt dieſem die unbeſtimmt ruͤndliche, matt- ſinkende Linie des untern Augenliedes! Hingegen iſt der, durch das Licht neben an ziemlich ſcharf ſich aushebende, ſchwarze, kraftvolle Stern, unter dieſem geraden (wiewohl abermals unwahren) Augen-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/366>, abgerufen am 22.11.2024.