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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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IX. Abschnitt. I. Fragment.

Dichter, sag' ich -- laßt mich die unangenehme Wahrheit wiederholen -- oder zween
Männer nennen, die meinen Gedanken erklären, wenn er Erklärung bedarf. --

Einmal ward Pope Dichter der englischen Nation; itzt ist er's nicht mehr. Denn sein
Dichtergenie war, wenn ich so sagen darf, nur Maniergenie. Es quoll aus Mund in Ohr,
aus Jmagination in Jmagination, aus Verstand in Verstand -- aber nicht aus ganzer bewegter
Seele in ganze bewegte Seele. Jtzt ist Voltäre Dichter der französischen Nation; die Zeit wird
bald kommen, da er's nicht mehr seyn wird -- wenn nämlich die Zeit bald kömmt, da die Franzo-
sen -- Menschen mit geradem Menschensinn seyn werden.

Nicht also, Freunde, legt's der Physiognomik zur Last, wenn sie Linien und Charakter,
wie sich von Pope und Voltären abstrahiren ließen -- nicht unter reine Dichterzüge aufneh-
men will. Lacht nicht, wenn sie vor solchen Gesichtern nicht sogleich laut und entscheidend ruft --
"Dichter! Dichter!" -- Die Zeit wird kommen, und sie ist nahe, hoff' ich, daß man der Phy-
siognomik allein das Monopolium -- nicht geben, denn sie hat's schon -- aber zugestehen wird --
"Sie soll über a) Dichtertalent, b) Dichtergefühl, c) Dichtergeist, d) Dichtergenie,
"e) Dichter -- entscheiden!" -- oder, wenn ihr das noch nicht für möglich haltet, wartet auf die
Entscheidungen der Nationen -- Laßt nur ihre Jdole hinter den Vorhang treten; das Hände-
klatschen vertönen -- das Geblüte kühl werden -- und -- und einen wahren Dichter unangekün-
digt
auftreten -- oder seine wahre Dichtung in die Nation hineinwerfen und davon gehen! oder
stellt Milton und Shakespearn -- neben die Pope und Addisons -- die Voltäre und
Boiläus -- neben Jean Jaques Roußeau -- und wenn ihr wollt, von allem deutschen Dich-
tervolke, das unterm Himmel ist -- neben -- Jhr wißt, wen ich meyne! und dann -- vergleicht
ihre Werke mit ihren Gestalten, und entscheidet -- wer ist Dichter? und entscheidet: wer soll
entscheiden? Nun solltet ihr mich nicht mehr mißverstehen, Leser, wenn ich euch frage --

Habt ihr auch schon einen Dichter gesehen --

Mit scharf und fest gezeichneten, groß oder kleinen sehr tiefliegenden Augen?

Einen mit Augenbraunen von starken gedrängten jedoch kurzen Haaren -- mit Augen-
braunen, die nahe auf den Augen lagen?

Einen
IX. Abſchnitt. I. Fragment.

Dichter, ſag’ ich — laßt mich die unangenehme Wahrheit wiederholen — oder zween
Maͤnner nennen, die meinen Gedanken erklaͤren, wenn er Erklaͤrung bedarf. —

Einmal ward Pope Dichter der engliſchen Nation; itzt iſt er’s nicht mehr. Denn ſein
Dichtergenie war, wenn ich ſo ſagen darf, nur Maniergenie. Es quoll aus Mund in Ohr,
aus Jmagination in Jmagination, aus Verſtand in Verſtand — aber nicht aus ganzer bewegter
Seele in ganze bewegte Seele. Jtzt iſt Voltaͤre Dichter der franzoͤſiſchen Nation; die Zeit wird
bald kommen, da er’s nicht mehr ſeyn wird — wenn naͤmlich die Zeit bald koͤmmt, da die Franzo-
ſen — Menſchen mit geradem Menſchenſinn ſeyn werden.

Nicht alſo, Freunde, legt’s der Phyſiognomik zur Laſt, wenn ſie Linien und Charakter,
wie ſich von Pope und Voltaͤren abſtrahiren ließen — nicht unter reine Dichterzuͤge aufneh-
men will. Lacht nicht, wenn ſie vor ſolchen Geſichtern nicht ſogleich laut und entſcheidend ruft —
„Dichter! Dichter!“ — Die Zeit wird kommen, und ſie iſt nahe, hoff’ ich, daß man der Phy-
ſiognomik allein das Monopolium — nicht geben, denn ſie hat’s ſchon — aber zugeſtehen wird —
„Sie ſoll uͤber a) Dichtertalent, b) Dichtergefuͤhl, c) Dichtergeiſt, d) Dichtergenie,
e) Dichter — entſcheiden!“ — oder, wenn ihr das noch nicht fuͤr moͤglich haltet, wartet auf die
Entſcheidungen der Nationen — Laßt nur ihre Jdole hinter den Vorhang treten; das Haͤnde-
klatſchen vertoͤnen — das Gebluͤte kuͤhl werden — und — und einen wahren Dichter unangekuͤn-
digt
auftreten — oder ſeine wahre Dichtung in die Nation hineinwerfen und davon gehen! oder
ſtellt Milton und Shakeſpearn — neben die Pope und Addiſons — die Voltaͤre und
Boilaͤus — neben Jean Jaques Roußeau — und wenn ihr wollt, von allem deutſchen Dich-
tervolke, das unterm Himmel iſt — neben — Jhr wißt, wen ich meyne! und dann — vergleicht
ihre Werke mit ihren Geſtalten, und entſcheidet — wer iſt Dichter? und entſcheidet: wer ſoll
entſcheiden? Nun ſolltet ihr mich nicht mehr mißverſtehen, Leſer, wenn ich euch frage —

Habt ihr auch ſchon einen Dichter geſehen —

Mit ſcharf und feſt gezeichneten, groß oder kleinen ſehr tiefliegenden Augen?

Einen mit Augenbraunen von ſtarken gedraͤngten jedoch kurzen Haaren — mit Augen-
braunen, die nahe auf den Augen lagen?

Einen
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[208/0344] IX. Abſchnitt. I. Fragment. Dichter, ſag’ ich — laßt mich die unangenehme Wahrheit wiederholen — oder zween Maͤnner nennen, die meinen Gedanken erklaͤren, wenn er Erklaͤrung bedarf. — Einmal ward Pope Dichter der engliſchen Nation; itzt iſt er’s nicht mehr. Denn ſein Dichtergenie war, wenn ich ſo ſagen darf, nur Maniergenie. Es quoll aus Mund in Ohr, aus Jmagination in Jmagination, aus Verſtand in Verſtand — aber nicht aus ganzer bewegter Seele in ganze bewegte Seele. Jtzt iſt Voltaͤre Dichter der franzoͤſiſchen Nation; die Zeit wird bald kommen, da er’s nicht mehr ſeyn wird — wenn naͤmlich die Zeit bald koͤmmt, da die Franzo- ſen — Menſchen mit geradem Menſchenſinn ſeyn werden. Nicht alſo, Freunde, legt’s der Phyſiognomik zur Laſt, wenn ſie Linien und Charakter, wie ſich von Pope und Voltaͤren abſtrahiren ließen — nicht unter reine Dichterzuͤge aufneh- men will. Lacht nicht, wenn ſie vor ſolchen Geſichtern nicht ſogleich laut und entſcheidend ruft — „Dichter! Dichter!“ — Die Zeit wird kommen, und ſie iſt nahe, hoff’ ich, daß man der Phy- ſiognomik allein das Monopolium — nicht geben, denn ſie hat’s ſchon — aber zugeſtehen wird — „Sie ſoll uͤber a) Dichtertalent, b) Dichtergefuͤhl, c) Dichtergeiſt, d) Dichtergenie, „e) Dichter — entſcheiden!“ — oder, wenn ihr das noch nicht fuͤr moͤglich haltet, wartet auf die Entſcheidungen der Nationen — Laßt nur ihre Jdole hinter den Vorhang treten; das Haͤnde- klatſchen vertoͤnen — das Gebluͤte kuͤhl werden — und — und einen wahren Dichter unangekuͤn- digt auftreten — oder ſeine wahre Dichtung in die Nation hineinwerfen und davon gehen! oder ſtellt Milton und Shakeſpearn — neben die Pope und Addiſons — die Voltaͤre und Boilaͤus — neben Jean Jaques Roußeau — und wenn ihr wollt, von allem deutſchen Dich- tervolke, das unterm Himmel iſt — neben — Jhr wißt, wen ich meyne! und dann — vergleicht ihre Werke mit ihren Geſtalten, und entſcheidet — wer iſt Dichter? und entſcheidet: wer ſoll entſcheiden? Nun ſolltet ihr mich nicht mehr mißverſtehen, Leſer, wenn ich euch frage — Habt ihr auch ſchon einen Dichter geſehen — Mit ſcharf und feſt gezeichneten, groß oder kleinen ſehr tiefliegenden Augen? Einen mit Augenbraunen von ſtarken gedraͤngten jedoch kurzen Haaren — mit Augen- braunen, die nahe auf den Augen lagen? Einen

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/344>, abgerufen am 22.11.2024.