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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VII. Abschnitt. I. Fragment.
hat der Urheber der Natur sichtbare Gegenstände fürs Auge gemacht? Der große Künstler -- ist
nur mit Gefühl sehendes Auge; -- seinem durchs Gefühl sehendern Auge müssen also höhere Din-
ge erscheinen -- wie Staub dem Auge des Maulwurfs. Ein jeder wird, was er werden soll.
Was Gott anfängt, vollendet Gott. Wie die Physiognomie des Künstlers, so sein Schick-
sal; so seine Kunst. Alle drey entwickeln und bilden sich mit einander aus -- Wohl verstanden --
wir sprechen nicht vom glücklichen oder unglücklichen Schicksale, wir sprechen vom Schicksale,
das den Künstler bildet. Und wir wissen, daß widriges Schicksal oft ihn schneller und besser bil-
det, als das, was man glücklich nennen mag.


Allen meinen Betrachtungen zufolge sind die entscheidendsten Züge des Künstlers beynahe
immer im Aug und in der Stirne -- sehr oft bloß in den Augenbraunen. Bloß -- das heißt, da
am sichtbarsten; am sprechendsten.

Scharfe Augen, fest gezeichnete Umrisse der Augen, die auch in Stein oder Gips, ohne
Farbe, ohne Feuer, offen, keck, kühn scheinen würden -- sind der großen; helleuchtende, licht-
volle Augen der erhabenen Künstler.

Die Werke des Künstlers sind wie seine Augen. Der Physiognomist sieht sein Aug
in seinem Werke; und sein Werk in seinem Auge.

Künstleraugen mit zurückgeschobenem obern Augenlied arbeiten gemeiniglich vortrefflich im
Detail -- mit Augenliedern, die etwas schmachtend über den Augapfel herabsinken -- tingiren
alle ihre Werke mit Liebe, mit Geist.

Je kleinere, beschnittnere Lippen, desto netter und fester; je größer und geschweifter, desto
Kraft- und Saftreicher ihre Werke ...

Unsterblich sind die Werke aller Künstler, deren Nasenrücken von der Wurzel an bis zum
Knopfe parallel und von merklicher Breite ist. --

Jch
VII. Abſchnitt. I. Fragment.
hat der Urheber der Natur ſichtbare Gegenſtaͤnde fuͤrs Auge gemacht? Der große Kuͤnſtler — iſt
nur mit Gefuͤhl ſehendes Auge; — ſeinem durchs Gefuͤhl ſehendern Auge muͤſſen alſo hoͤhere Din-
ge erſcheinen — wie Staub dem Auge des Maulwurfs. Ein jeder wird, was er werden ſoll.
Was Gott anfaͤngt, vollendet Gott. Wie die Phyſiognomie des Kuͤnſtlers, ſo ſein Schick-
ſal; ſo ſeine Kunſt. Alle drey entwickeln und bilden ſich mit einander aus — Wohl verſtanden —
wir ſprechen nicht vom gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Schickſale, wir ſprechen vom Schickſale,
das den Kuͤnſtler bildet. Und wir wiſſen, daß widriges Schickſal oft ihn ſchneller und beſſer bil-
det, als das, was man gluͤcklich nennen mag.


Allen meinen Betrachtungen zufolge ſind die entſcheidendſten Zuͤge des Kuͤnſtlers beynahe
immer im Aug und in der Stirne — ſehr oft bloß in den Augenbraunen. Bloß — das heißt, da
am ſichtbarſten; am ſprechendſten.

Scharfe Augen, feſt gezeichnete Umriſſe der Augen, die auch in Stein oder Gips, ohne
Farbe, ohne Feuer, offen, keck, kuͤhn ſcheinen wuͤrden — ſind der großen; helleuchtende, licht-
volle Augen der erhabenen Kuͤnſtler.

Die Werke des Kuͤnſtlers ſind wie ſeine Augen. Der Phyſiognomiſt ſieht ſein Aug
in ſeinem Werke; und ſein Werk in ſeinem Auge.

Kuͤnſtleraugen mit zuruͤckgeſchobenem obern Augenlied arbeiten gemeiniglich vortrefflich im
Detail — mit Augenliedern, die etwas ſchmachtend uͤber den Augapfel herabſinken — tingiren
alle ihre Werke mit Liebe, mit Geiſt.

Je kleinere, beſchnittnere Lippen, deſto netter und feſter; je groͤßer und geſchweifter, deſto
Kraft- und Saftreicher ihre Werke ...

Unſterblich ſind die Werke aller Kuͤnſtler, deren Naſenruͤcken von der Wurzel an bis zum
Knopfe parallel und von merklicher Breite iſt. —

Jch
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[168/0270] VII. Abſchnitt. I. Fragment. hat der Urheber der Natur ſichtbare Gegenſtaͤnde fuͤrs Auge gemacht? Der große Kuͤnſtler — iſt nur mit Gefuͤhl ſehendes Auge; — ſeinem durchs Gefuͤhl ſehendern Auge muͤſſen alſo hoͤhere Din- ge erſcheinen — wie Staub dem Auge des Maulwurfs. Ein jeder wird, was er werden ſoll. Was Gott anfaͤngt, vollendet Gott. Wie die Phyſiognomie des Kuͤnſtlers, ſo ſein Schick- ſal; ſo ſeine Kunſt. Alle drey entwickeln und bilden ſich mit einander aus — Wohl verſtanden — wir ſprechen nicht vom gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Schickſale, wir ſprechen vom Schickſale, das den Kuͤnſtler bildet. Und wir wiſſen, daß widriges Schickſal oft ihn ſchneller und beſſer bil- det, als das, was man gluͤcklich nennen mag. Allen meinen Betrachtungen zufolge ſind die entſcheidendſten Zuͤge des Kuͤnſtlers beynahe immer im Aug und in der Stirne — ſehr oft bloß in den Augenbraunen. Bloß — das heißt, da am ſichtbarſten; am ſprechendſten. Scharfe Augen, feſt gezeichnete Umriſſe der Augen, die auch in Stein oder Gips, ohne Farbe, ohne Feuer, offen, keck, kuͤhn ſcheinen wuͤrden — ſind der großen; helleuchtende, licht- volle Augen der erhabenen Kuͤnſtler. Die Werke des Kuͤnſtlers ſind wie ſeine Augen. Der Phyſiognomiſt ſieht ſein Aug in ſeinem Werke; und ſein Werk in ſeinem Auge. Kuͤnſtleraugen mit zuruͤckgeſchobenem obern Augenlied arbeiten gemeiniglich vortrefflich im Detail — mit Augenliedern, die etwas ſchmachtend uͤber den Augapfel herabſinken — tingiren alle ihre Werke mit Liebe, mit Geiſt. Je kleinere, beſchnittnere Lippen, deſto netter und feſter; je groͤßer und geſchweifter, deſto Kraft- und Saftreicher ihre Werke ... Unſterblich ſind die Werke aller Kuͤnſtler, deren Naſenruͤcken von der Wurzel an bis zum Knopfe parallel und von merklicher Breite iſt. — Jch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/270>, abgerufen am 22.11.2024.