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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
achten der Natur -- und so wenig Kraft, nachzuahmen? -- Weil Folgsamkeit und Frey-
heit
fehlt -- die nur Uebung geben kann. Liebe macht freylich einen langen Weg kurz, und
einen beschwerlichen leicht -- Aber -- Uebung im Gehen wird doch immer voraus gesetzt,
wenn sie's wagen soll, den Weg zu gehen, den sie Kraft hätte zu gehen. Freyheit ist aus-
gewickelte, geübte, durch Uebung losgebundene Kraft. O wenn der Knabe gleich das Bley-
stift nähme, nachzukritzeln den Felsen, den Baum, der seine erste Liebe gewinnt und sein Ver-
trauter wird -- wie bald würde seine Kraft werden wie sein Gefühl! Nicht ganz, wie sein
Gefühl, das versteht sich -- so wenig irgend eine physische Linie der mathematischen gleich rein
seyn kann. Aber doch in trefflichem Verhältniß -- doch sich seinem Gefühle sehr nä-
hernd. --
Nun gebt dem Künstler f) noch gute Werkzeuge -- Jhr gemeinern Menschen --
gebt ihm Papier und Bleystift und Pinsel und Farben -- und hohe Zimmer -- und Gott
wird ihm dann gewiß
g) Veranlassungen und Ermunterungen von außen, die ihn völliger aus-
bilden, nicht versagen -- Wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Ver-
stand
-- sagt das Sprichwort -- und die Physiognomik sagt: "dem gab Gott Verstand;
"Pfand, daß er ihm auch Amt, auch Würkungskreis, Feld und Segen geben werde." --
Mir ist's Beobachtung und Ahndung. Wie die Physiognomie des Menschen, so sein
Schicksal.
Der geborne Künstler -- oder eigentlicher -- der feinfühlende -- großfühlende --
schnellfühlende -- tieffühlende -- langfühlende -- der's Kraft seiner Organisation und Bildung
ist, der -- findet was er sucht. Wer anklopft, dem wird aufgethan; nämlich -- wer
Beruf hat, anzuklopfen;
wer warten kann, wenn ihm nicht gleich aufgethan wird. Die
Liebe versteht Liebe. Liebe sucht Liebe. Liebe antwortet der fragenden Liebe. Und wie der
Vater im Himmel solche sucht, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten, und
ein Belohner aller derer ist, die ihn suchen
-- So die Natur Belohnerinn der Kunst --
So die Fürsehung Ermunterinn der Natur -- oder mit andern Worten -- Gott -- Entwickler
der Fähigkeiten, die er hier befruchtet -- das ist, aufzuwecken angefangen hat. Es ist eben so
große Thorheit zu fragen: warum ward Raphael ein großer Mahler? als zu fragen: warum
hat
Allgemeine Betrachtungen.
achten der Natur — und ſo wenig Kraft, nachzuahmen? — Weil Folgſamkeit und Frey-
heit
fehlt — die nur Uebung geben kann. Liebe macht freylich einen langen Weg kurz, und
einen beſchwerlichen leicht — Aber — Uebung im Gehen wird doch immer voraus geſetzt,
wenn ſie’s wagen ſoll, den Weg zu gehen, den ſie Kraft haͤtte zu gehen. Freyheit iſt aus-
gewickelte, geuͤbte, durch Uebung losgebundene Kraft. O wenn der Knabe gleich das Bley-
ſtift naͤhme, nachzukritzeln den Felſen, den Baum, der ſeine erſte Liebe gewinnt und ſein Ver-
trauter wird — wie bald wuͤrde ſeine Kraft werden wie ſein Gefuͤhl! Nicht ganz, wie ſein
Gefuͤhl, das verſteht ſich — ſo wenig irgend eine phyſiſche Linie der mathematiſchen gleich rein
ſeyn kann. Aber doch in trefflichem Verhaͤltniß — doch ſich ſeinem Gefuͤhle ſehr naͤ-
hernd. —
Nun gebt dem Kuͤnſtler f) noch gute Werkzeuge — Jhr gemeinern Menſchen —
gebt ihm Papier und Bleyſtift und Pinſel und Farben — und hohe Zimmer — und Gott
wird ihm dann gewiß
g) Veranlaſſungen und Ermunterungen von außen, die ihn voͤlliger aus-
bilden, nicht verſagen — Wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Ver-
ſtand
— ſagt das Sprichwort — und die Phyſiognomik ſagt: „dem gab Gott Verſtand;
„Pfand, daß er ihm auch Amt, auch Wuͤrkungskreis, Feld und Segen geben werde.“ —
Mir iſt’s Beobachtung und Ahndung. Wie die Phyſiognomie des Menſchen, ſo ſein
Schickſal.
Der geborne Kuͤnſtler — oder eigentlicher — der feinfuͤhlende — großfuͤhlende —
ſchnellfuͤhlende — tieffuͤhlende — langfuͤhlende — der’s Kraft ſeiner Organiſation und Bildung
iſt, der — findet was er ſucht. Wer anklopft, dem wird aufgethan; naͤmlich — wer
Beruf hat, anzuklopfen;
wer warten kann, wenn ihm nicht gleich aufgethan wird. Die
Liebe verſteht Liebe. Liebe ſucht Liebe. Liebe antwortet der fragenden Liebe. Und wie der
Vater im Himmel ſolche ſucht, die ihn im Geiſt und in der Wahrheit anbeten, und
ein Belohner aller derer iſt, die ihn ſuchen
— So die Natur Belohnerinn der Kunſt —
So die Fuͤrſehung Ermunterinn der Natur — oder mit andern Worten — Gott — Entwickler
der Faͤhigkeiten, die er hier befruchtet — das iſt, aufzuwecken angefangen hat. Es iſt eben ſo
große Thorheit zu fragen: warum ward Raphael ein großer Mahler? als zu fragen: warum
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[167/0269] Allgemeine Betrachtungen. achten der Natur — und ſo wenig Kraft, nachzuahmen? — Weil Folgſamkeit und Frey- heit fehlt — die nur Uebung geben kann. Liebe macht freylich einen langen Weg kurz, und einen beſchwerlichen leicht — Aber — Uebung im Gehen wird doch immer voraus geſetzt, wenn ſie’s wagen ſoll, den Weg zu gehen, den ſie Kraft haͤtte zu gehen. Freyheit iſt aus- gewickelte, geuͤbte, durch Uebung losgebundene Kraft. O wenn der Knabe gleich das Bley- ſtift naͤhme, nachzukritzeln den Felſen, den Baum, der ſeine erſte Liebe gewinnt und ſein Ver- trauter wird — wie bald wuͤrde ſeine Kraft werden wie ſein Gefuͤhl! Nicht ganz, wie ſein Gefuͤhl, das verſteht ſich — ſo wenig irgend eine phyſiſche Linie der mathematiſchen gleich rein ſeyn kann. Aber doch in trefflichem Verhaͤltniß — doch ſich ſeinem Gefuͤhle ſehr naͤ- hernd. — Nun gebt dem Kuͤnſtler f) noch gute Werkzeuge — Jhr gemeinern Menſchen — gebt ihm Papier und Bleyſtift und Pinſel und Farben — und hohe Zimmer — und Gott wird ihm dann gewiß g) Veranlaſſungen und Ermunterungen von außen, die ihn voͤlliger aus- bilden, nicht verſagen — Wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Ver- ſtand — ſagt das Sprichwort — und die Phyſiognomik ſagt: „dem gab Gott Verſtand; „Pfand, daß er ihm auch Amt, auch Wuͤrkungskreis, Feld und Segen geben werde.“ — Mir iſt’s Beobachtung und Ahndung. Wie die Phyſiognomie des Menſchen, ſo ſein Schickſal. Der geborne Kuͤnſtler — oder eigentlicher — der feinfuͤhlende — großfuͤhlende — ſchnellfuͤhlende — tieffuͤhlende — langfuͤhlende — der’s Kraft ſeiner Organiſation und Bildung iſt, der — findet was er ſucht. Wer anklopft, dem wird aufgethan; naͤmlich — wer Beruf hat, anzuklopfen; wer warten kann, wenn ihm nicht gleich aufgethan wird. Die Liebe verſteht Liebe. Liebe ſucht Liebe. Liebe antwortet der fragenden Liebe. Und wie der Vater im Himmel ſolche ſucht, die ihn im Geiſt und in der Wahrheit anbeten, und ein Belohner aller derer iſt, die ihn ſuchen — So die Natur Belohnerinn der Kunſt — So die Fuͤrſehung Ermunterinn der Natur — oder mit andern Worten — Gott — Entwickler der Faͤhigkeiten, die er hier befruchtet — das iſt, aufzuwecken angefangen hat. Es iſt eben ſo große Thorheit zu fragen: warum ward Raphael ein großer Mahler? als zu fragen: warum hat

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/269>, abgerufen am 22.11.2024.