IV. Abschnitt. IV. Fragment. Viertes Fragment. Von dem Charakter der Handschriften.
Kann man es nicht als ein Axiom über die menschliche Natur annehmen -- oder steht nicht zu hoffen, daß man es, bey mehrerer Erforschung der menschlichen Natur, als ein Axiom annehmen werde:
"Jn der menschlichen Natur ist kein wahrer Kontrast oder Widerspruch." --
So viel ist gewiß: Kein Glied am menschlichen Körper widerspricht dem andern. Keines hebt das andere auf; jegliches ist mit jeglichem zusammenhängend; jedes jeglichem untergeordnet; jedes -- wird von Einem und demselben Geiste bewegt. Jedes ist von der Natur und dem Tem- peramente des andern, obgleich sich dieses Temperament in dem Einen mehr, als in dem andern zei- gen und äußern mag. Jnzwischen hat jedes Glied am Menschen den Charakter des ganzen Körpers -- Es ist nichts zusammengeflicktes in der Natur. Nur die Kunst schneidet weg und flickt an. Die Unerreichbarkeit der Natur wird immer ihre Ganzheit und Homogenität seyn! Sie setzt nichts an; sie schafft alles aus Einem; bildet alles aus Einem heraus. Die Hand aus dem Arm und mit dem Arm -- die Finger aus beyden und mit beyden ... die offenbarste, die nicht gefühlteste Wahrheit ... Fundament abermal aller Physiognomik .. Siegel der Allbedeut- samkeit aller Theile des menschlichen Körpers -- Siegel der großen, nicht erkannten, erst einem folgenden Jahrhundert aufbehaltnen Wahrheit -- "daß aus Einem gesunden Gliede, einem "richtigen Stück Umriß auf den ganzen Körper, mithin auf den ganzen Charakter ge- "schlossen werden kann." -- Das ist mir Wahrheit, wie meine Existenz. Es wird Wahrheit bleiben, so lang die Natur Natur bleibt ... Jnnere Ganzheit ist das Gepräge der ganzen Natur. Wie die ganze Natur Silhouette des unendlichen ewigen Urgeistes ist -- so alle Produkte der Natur -- dieselbe Silhouette auf unendlich mannichfaltige Weise verkleinert, gefärbt, und geschattet. Und wie's nur Eine Sektion, nicht mehrere Sektionen, giebt -- von einem Zir- kel, und aus jeder Sektion der ganze Zirkel gefunden werden kann; so kann in jedem Geschöpfe der Schöpfer -- aus jedem Produkte der Natur die Natur -- aus jedem Theile, jeder Sektion des Produktes das ganze Produkt gefunden werden.
Wie
IV. Abſchnitt. IV. Fragment. Viertes Fragment. Von dem Charakter der Handſchriften.
Kann man es nicht als ein Axiom uͤber die menſchliche Natur annehmen — oder ſteht nicht zu hoffen, daß man es, bey mehrerer Erforſchung der menſchlichen Natur, als ein Axiom annehmen werde:
„Jn der menſchlichen Natur iſt kein wahrer Kontraſt oder Widerſpruch.“ —
So viel iſt gewiß: Kein Glied am menſchlichen Koͤrper widerſpricht dem andern. Keines hebt das andere auf; jegliches iſt mit jeglichem zuſammenhaͤngend; jedes jeglichem untergeordnet; jedes — wird von Einem und demſelben Geiſte bewegt. Jedes iſt von der Natur und dem Tem- peramente des andern, obgleich ſich dieſes Temperament in dem Einen mehr, als in dem andern zei- gen und aͤußern mag. Jnzwiſchen hat jedes Glied am Menſchen den Charakter des ganzen Koͤrpers — Es iſt nichts zuſammengeflicktes in der Natur. Nur die Kunſt ſchneidet weg und flickt an. Die Unerreichbarkeit der Natur wird immer ihre Ganzheit und Homogenitaͤt ſeyn! Sie ſetzt nichts an; ſie ſchafft alles aus Einem; bildet alles aus Einem heraus. Die Hand aus dem Arm und mit dem Arm — die Finger aus beyden und mit beyden ... die offenbarſte, die nicht gefuͤhlteſte Wahrheit ... Fundament abermal aller Phyſiognomik .. Siegel der Allbedeut- ſamkeit aller Theile des menſchlichen Koͤrpers — Siegel der großen, nicht erkannten, erſt einem folgenden Jahrhundert aufbehaltnen Wahrheit — „daß aus Einem geſunden Gliede, einem „richtigen Stuͤck Umriß auf den ganzen Koͤrper, mithin auf den ganzen Charakter ge- „ſchloſſen werden kann.“ — Das iſt mir Wahrheit, wie meine Exiſtenz. Es wird Wahrheit bleiben, ſo lang die Natur Natur bleibt ... Jnnere Ganzheit iſt das Gepraͤge der ganzen Natur. Wie die ganze Natur Silhouette des unendlichen ewigen Urgeiſtes iſt — ſo alle Produkte der Natur — dieſelbe Silhouette auf unendlich mannichfaltige Weiſe verkleinert, gefaͤrbt, und geſchattet. Und wie’s nur Eine Sektion, nicht mehrere Sektionen, giebt — von einem Zir- kel, und aus jeder Sektion der ganze Zirkel gefunden werden kann; ſo kann in jedem Geſchoͤpfe der Schoͤpfer — aus jedem Produkte der Natur die Natur — aus jedem Theile, jeder Sektion des Produktes das ganze Produkt gefunden werden.
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IV. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Von dem Charakter der Handſchriften.
Kann man es nicht als ein Axiom uͤber die menſchliche Natur annehmen — oder ſteht nicht zu
hoffen, daß man es, bey mehrerer Erforſchung der menſchlichen Natur, als ein Axiom annehmen
werde:
„Jn der menſchlichen Natur iſt kein wahrer Kontraſt oder Widerſpruch.“ —
So viel iſt gewiß: Kein Glied am menſchlichen Koͤrper widerſpricht dem andern. Keines
hebt das andere auf; jegliches iſt mit jeglichem zuſammenhaͤngend; jedes jeglichem untergeordnet;
jedes — wird von Einem und demſelben Geiſte bewegt. Jedes iſt von der Natur und dem Tem-
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gen und aͤußern mag. Jnzwiſchen hat jedes Glied am Menſchen den Charakter des ganzen
Koͤrpers — Es iſt nichts zuſammengeflicktes in der Natur. Nur die Kunſt ſchneidet weg
und flickt an. Die Unerreichbarkeit der Natur wird immer ihre Ganzheit und Homogenitaͤt ſeyn!
Sie ſetzt nichts an; ſie ſchafft alles aus Einem; bildet alles aus Einem heraus. Die Hand aus
dem Arm und mit dem Arm — die Finger aus beyden und mit beyden ... die offenbarſte, die
nicht gefuͤhlteſte Wahrheit ... Fundament abermal aller Phyſiognomik .. Siegel der Allbedeut-
ſamkeit aller Theile des menſchlichen Koͤrpers — Siegel der großen, nicht erkannten, erſt einem
folgenden Jahrhundert aufbehaltnen Wahrheit — „daß aus Einem geſunden Gliede, einem
„richtigen Stuͤck Umriß auf den ganzen Koͤrper, mithin auf den ganzen Charakter ge-
„ſchloſſen werden kann.“ — Das iſt mir Wahrheit, wie meine Exiſtenz. Es wird
Wahrheit bleiben, ſo lang die Natur Natur bleibt ... Jnnere Ganzheit iſt das Gepraͤge der
ganzen Natur. Wie die ganze Natur Silhouette des unendlichen ewigen Urgeiſtes iſt — ſo alle
Produkte der Natur — dieſelbe Silhouette auf unendlich mannichfaltige Weiſe verkleinert, gefaͤrbt,
und geſchattet. Und wie’s nur Eine Sektion, nicht mehrere Sektionen, giebt — von einem Zir-
kel, und aus jeder Sektion der ganze Zirkel gefunden werden kann; ſo kann in jedem Geſchoͤpfe der
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Produktes das ganze Produkt gefunden werden.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/164>, abgerufen am 25.11.2024.
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