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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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III. Abschnitt. II. Fragment.
als hundert für gut gehaltene Menschen, die vielleicht nicht fähig sind, eines der Laster zu begehen,
um deren willen wir ihn so sehr verurtheilen -- und als Glieder der Societät verurtheilen
müssen.)

"Führt mir diese Menschen vor, wird Lavater antworten; ich will sie, wie den Sokra-
"tes
commentiren; denn ein kleiner, oft nicht gleich bemerkter Zug erklärt vielleicht, was euch so
"räthselhaft schien." -- --

"Aber wird dadurch nicht manches in die Glosse kommen, was niemals im Texte gewesen
"ist?" -- (Das könnte geschehen, und sollte nicht! Jch will auch zugeben, daß ein gutes Gesicht
bisweilen auch wie ein Schurke handeln kann -- Aber dieß gute Gesicht -- einerseits, wird in dem
Momente, wo es so handelt, nicht mehr so gut scheinen -- und anderseits hundertmal gegen Eins --
gut handeln.)

"Wir sollen von einem erforschten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten schlies-
"sen; -- ist es aber so leicht, den Menschen zu erforschen? wenn er wandelt in Nacht, und sich
"Widerspruch an Widerspruch lagert? wenn er periodisch das Gegentheil ist von dem, was er war?
"Denn wie selten findet sich der Mann

"Qui qualis ab initio processerit et sibi constet."

(O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und schreckend für den Physiognomisten!)
"Kennten wir den August allein aus seinem Betragen gegen Cinna; den Cicero nur aus seinem
"Consulate, welche Männer? Elisabeth, welche Colossalfigur unter den Königinnen, und wie
"klein und verächtlich wird die veraltete Kokette? -- Jakob der II. ein tapferer General und ein
"feiger König. Der Königsrächer Monk, ein Sklave seines Weibes; Algernoon Sidney
"und Rußel, Patrioten, wie Römer, und von Frankreich erkauft; Bakon, der Vater der Weis-
"heit -- ein bestechbarer Richter! -- Bey Entdeckungen dieser Art schauert man vor den Menschen
"zurück; man schleudert Freunde und Bekannte wie glühende Kohlen aus der Hand." --

"Wenn diese Chamäleonsseelen eins ums andere verächtlich und groß sind, und doch ihre
"Gestalt nicht ändern, was sagt denn ihre Gestalt?" --

Jhre Gestalt zeigt, was sie seyn könnten und sollten -- und ihre Miene im Augenblicke
des Handelns, was sie sind! -- Jhr Gesicht zeigt ihre Kraft, und ihre Miene die Anwendung

ihrer

III. Abſchnitt. II. Fragment.
als hundert fuͤr gut gehaltene Menſchen, die vielleicht nicht faͤhig ſind, eines der Laſter zu begehen,
um deren willen wir ihn ſo ſehr verurtheilen — und als Glieder der Societaͤt verurtheilen
muͤſſen.)

„Fuͤhrt mir dieſe Menſchen vor, wird Lavater antworten; ich will ſie, wie den Sokra-
„tes
commentiren; denn ein kleiner, oft nicht gleich bemerkter Zug erklaͤrt vielleicht, was euch ſo
„raͤthſelhaft ſchien.“ — —

„Aber wird dadurch nicht manches in die Gloſſe kommen, was niemals im Texte geweſen
„iſt?“ — (Das koͤnnte geſchehen, und ſollte nicht! Jch will auch zugeben, daß ein gutes Geſicht
bisweilen auch wie ein Schurke handeln kann — Aber dieß gute Geſicht — einerſeits, wird in dem
Momente, wo es ſo handelt, nicht mehr ſo gut ſcheinen — und anderſeits hundertmal gegen Eins —
gut handeln.)

„Wir ſollen von einem erforſchten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten ſchlieſ-
„ſen; — iſt es aber ſo leicht, den Menſchen zu erforſchen? wenn er wandelt in Nacht, und ſich
„Widerſpruch an Widerſpruch lagert? wenn er periodiſch das Gegentheil iſt von dem, was er war?
„Denn wie ſelten findet ſich der Mann

„Qui qualis ab initio proceſſerit et ſibi conſtet.“

(O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und ſchreckend fuͤr den Phyſiognomiſten!)
„Kennten wir den Auguſt allein aus ſeinem Betragen gegen Cinna; den Cicero nur aus ſeinem
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„feiger Koͤnig. Der Koͤnigsraͤcher Monk, ein Sklave ſeines Weibes; Algernoon Sidney
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„heit — ein beſtechbarer Richter! — Bey Entdeckungen dieſer Art ſchauert man vor den Menſchen
„zuruͤck; man ſchleudert Freunde und Bekannte wie gluͤhende Kohlen aus der Hand.“ —

„Wenn dieſe Chamaͤleonsſeelen eins ums andere veraͤchtlich und groß ſind, und doch ihre
„Geſtalt nicht aͤndern, was ſagt denn ihre Geſtalt?“ —

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[96/0146] III. Abſchnitt. II. Fragment. als hundert fuͤr gut gehaltene Menſchen, die vielleicht nicht faͤhig ſind, eines der Laſter zu begehen, um deren willen wir ihn ſo ſehr verurtheilen — und als Glieder der Societaͤt verurtheilen muͤſſen.) „Fuͤhrt mir dieſe Menſchen vor, wird Lavater antworten; ich will ſie, wie den Sokra- „tes commentiren; denn ein kleiner, oft nicht gleich bemerkter Zug erklaͤrt vielleicht, was euch ſo „raͤthſelhaft ſchien.“ — — „Aber wird dadurch nicht manches in die Gloſſe kommen, was niemals im Texte geweſen „iſt?“ — (Das koͤnnte geſchehen, und ſollte nicht! Jch will auch zugeben, daß ein gutes Geſicht bisweilen auch wie ein Schurke handeln kann — Aber dieß gute Geſicht — einerſeits, wird in dem Momente, wo es ſo handelt, nicht mehr ſo gut ſcheinen — und anderſeits hundertmal gegen Eins — gut handeln.) „Wir ſollen von einem erforſchten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten ſchlieſ- „ſen; — iſt es aber ſo leicht, den Menſchen zu erforſchen? wenn er wandelt in Nacht, und ſich „Widerſpruch an Widerſpruch lagert? wenn er periodiſch das Gegentheil iſt von dem, was er war? „Denn wie ſelten findet ſich der Mann „Qui qualis ab initio proceſſerit et ſibi conſtet.“ (O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und ſchreckend fuͤr den Phyſiognomiſten!) „Kennten wir den Auguſt allein aus ſeinem Betragen gegen Cinna; den Cicero nur aus ſeinem „Conſulate, welche Maͤnner? Eliſabeth, welche Coloſſalfigur unter den Koͤniginnen, und wie „klein und veraͤchtlich wird die veraltete Kokette? — Jakob der II. ein tapferer General und ein „feiger Koͤnig. Der Koͤnigsraͤcher Monk, ein Sklave ſeines Weibes; Algernoon Sidney „und Rußel, Patrioten, wie Roͤmer, und von Frankreich erkauft; Bakon, der Vater der Weis- „heit — ein beſtechbarer Richter! — Bey Entdeckungen dieſer Art ſchauert man vor den Menſchen „zuruͤck; man ſchleudert Freunde und Bekannte wie gluͤhende Kohlen aus der Hand.“ — „Wenn dieſe Chamaͤleonsſeelen eins ums andere veraͤchtlich und groß ſind, und doch ihre „Geſtalt nicht aͤndern, was ſagt denn ihre Geſtalt?“ — Jhre Geſtalt zeigt, was ſie ſeyn koͤnnten und ſollten — und ihre Miene im Augenblicke des Handelns, was ſie ſind! — Jhr Geſicht zeigt ihre Kraft, und ihre Miene die Anwendung ihrer

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/146>, abgerufen am 23.11.2024.