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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Erklärung eines Gelehrten über die Physiognomik.

"Churchill glich einem Ochsentreiber; Goldsmith einem Pinsel; Strange's kaltes
Auge verräth den Künstler nicht." -- (Die kältesten Augen sind oft der größten Künstler. Künst-
ler seyn und Genie seyn -- ist zweyerley. Kälte ist das Apanage der Künstler, die nur Künstler sind.)
"Wille, ein wandelndes Feuer kündigt den Mann nicht an, der sein Leben mit lauter Paral-
"lelstrichen zubringt" -- (Man kann viel Feuer haben -- und doch kalt seyn. Die feurigsten
Menschen sind die kältesten.
Kaum eine Beobachtung hat sich mir so sehr bewahrheitet, wie
diese. Sie scheint sich zu widersprechen, und widerspricht sich nicht. Heftige, schnell auffahrende,
muthig entschlossene, fertig arbeitende, kühn hinschreibende Menschen sind selten warm -- sind, die
Zeiten der Heftigkeit ausgenommen, die kältesten Seelen. Wills Styl und Gesicht, wenn das
Profilporträt von ihm ähnlich ist -- haben vollkommen diesen Charakter.)

"Boucher, der Mahler der Grazien, sah wie ein abgehärteter Criminalrichter aus" --
(Wahrlich so, eigentlich so kam mir sein Porträt vor -- aber dann, mein werthester Herr St...
müßten wir uns noch über den Mahler der Grazien einverstehen? .. den find' ich in seinen
Arbeiten so wenig, als in seinem Gesichte -- Seltsam! Alle Stücke von Boucher waren mißstim-
mig mit meinem Gefühle. Jch konnte kaum Eins con amore ansehen -- und gerade so gieng's mir
nachher mit seinem Gesichte. Nun kann ichs begreifen, sagt' ich beym ersten Anblicke seines Bil-
des zu mir selber, warum dir nichts von Boucher behagen will.) --

"Jch sahe -- (wieder Worte unsers Beobachters) einen Verurtheilten zum Rade, der mit
"der Bosheit eines Teufels seinen Wohlthäter umgebracht hatte, und sein Gesicht war hold und
"offen, wie einer von Guido's Engeln. Es ist nicht unmöglich, auf den Galeeren Regulusköpfe,
"Vestalengesichter im Zuchthause zu finden!" -- (Das kann ich zum Theil aus eigner Erfahrung
mit bestätigen. Fern also, daß ichs bestreiten wolle! Aber diese Lasterhaften, so abscheulich auch
ihre Thaten -- der äußern Form und Würkung nach, ja auch wenn ihr wollt, in Absicht auf den
innern Grund gewesen seyn mögen -- waren dennoch keine grundböse Menschen. Welcher
reine, edle, feingebaute, leicht reizbare Mensch -- mit der zärtesten Engelsseele -- hat nicht seine
Teufelsaugenblicke -- wo nichts als die Gelegenheit fehlt -- in einer Stunde ihn zwey, drey un-
geheure Laster begehen zu lassen -- die ihn vor aller Welt als den abscheulichsten Menschen dar-
stellen, oder vielmehr darzustellen scheinen -- und er kann noch tausendmal besser und edler seyn,

als
Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik.

Churchill glich einem Ochſentreiber; Goldſmith einem Pinſel; Strange’s kaltes
Auge verraͤth den Kuͤnſtler nicht.“ — (Die kaͤlteſten Augen ſind oft der groͤßten Kuͤnſtler. Kuͤnſt-
ler ſeyn und Genie ſeyn — iſt zweyerley. Kaͤlte iſt das Apanage der Kuͤnſtler, die nur Kuͤnſtler ſind.)
Wille, ein wandelndes Feuer kuͤndigt den Mann nicht an, der ſein Leben mit lauter Paral-
„lelſtrichen zubringt“ — (Man kann viel Feuer haben — und doch kalt ſeyn. Die feurigſten
Menſchen ſind die kaͤlteſten.
Kaum eine Beobachtung hat ſich mir ſo ſehr bewahrheitet, wie
dieſe. Sie ſcheint ſich zu widerſprechen, und widerſpricht ſich nicht. Heftige, ſchnell auffahrende,
muthig entſchloſſene, fertig arbeitende, kuͤhn hinſchreibende Menſchen ſind ſelten warm — ſind, die
Zeiten der Heftigkeit ausgenommen, die kaͤlteſten Seelen. Wills Styl und Geſicht, wenn das
Profilportraͤt von ihm aͤhnlich iſt — haben vollkommen dieſen Charakter.)

Boucher, der Mahler der Grazien, ſah wie ein abgehaͤrteter Criminalrichter aus“ —
(Wahrlich ſo, eigentlich ſo kam mir ſein Portraͤt vor — aber dann, mein wertheſter Herr St...
muͤßten wir uns noch uͤber den Mahler der Grazien einverſtehen? .. den find’ ich in ſeinen
Arbeiten ſo wenig, als in ſeinem Geſichte — Seltſam! Alle Stuͤcke von Boucher waren mißſtim-
mig mit meinem Gefuͤhle. Jch konnte kaum Eins con amore anſehen — und gerade ſo gieng’s mir
nachher mit ſeinem Geſichte. Nun kann ichs begreifen, ſagt’ ich beym erſten Anblicke ſeines Bil-
des zu mir ſelber, warum dir nichts von Boucher behagen will.) —

„Jch ſahe — (wieder Worte unſers Beobachters) einen Verurtheilten zum Rade, der mit
„der Bosheit eines Teufels ſeinen Wohlthaͤter umgebracht hatte, und ſein Geſicht war hold und
„offen, wie einer von Guido’s Engeln. Es iſt nicht unmoͤglich, auf den Galeeren Reguluskoͤpfe,
„Veſtalengeſichter im Zuchthauſe zu finden!“ — (Das kann ich zum Theil aus eigner Erfahrung
mit beſtaͤtigen. Fern alſo, daß ichs beſtreiten wolle! Aber dieſe Laſterhaften, ſo abſcheulich auch
ihre Thaten — der aͤußern Form und Wuͤrkung nach, ja auch wenn ihr wollt, in Abſicht auf den
innern Grund geweſen ſeyn moͤgen — waren dennoch keine grundboͤſe Menſchen. Welcher
reine, edle, feingebaute, leicht reizbare Menſch — mit der zaͤrteſten Engelsſeele — hat nicht ſeine
Teufelsaugenblicke — wo nichts als die Gelegenheit fehlt — in einer Stunde ihn zwey, drey un-
geheure Laſter begehen zu laſſen — die ihn vor aller Welt als den abſcheulichſten Menſchen dar-
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[95/0145] Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik. „Churchill glich einem Ochſentreiber; Goldſmith einem Pinſel; Strange’s kaltes Auge verraͤth den Kuͤnſtler nicht.“ — (Die kaͤlteſten Augen ſind oft der groͤßten Kuͤnſtler. Kuͤnſt- ler ſeyn und Genie ſeyn — iſt zweyerley. Kaͤlte iſt das Apanage der Kuͤnſtler, die nur Kuͤnſtler ſind.) „Wille, ein wandelndes Feuer kuͤndigt den Mann nicht an, der ſein Leben mit lauter Paral- „lelſtrichen zubringt“ — (Man kann viel Feuer haben — und doch kalt ſeyn. Die feurigſten Menſchen ſind die kaͤlteſten. Kaum eine Beobachtung hat ſich mir ſo ſehr bewahrheitet, wie dieſe. Sie ſcheint ſich zu widerſprechen, und widerſpricht ſich nicht. Heftige, ſchnell auffahrende, muthig entſchloſſene, fertig arbeitende, kuͤhn hinſchreibende Menſchen ſind ſelten warm — ſind, die Zeiten der Heftigkeit ausgenommen, die kaͤlteſten Seelen. Wills Styl und Geſicht, wenn das Profilportraͤt von ihm aͤhnlich iſt — haben vollkommen dieſen Charakter.) „Boucher, der Mahler der Grazien, ſah wie ein abgehaͤrteter Criminalrichter aus“ — (Wahrlich ſo, eigentlich ſo kam mir ſein Portraͤt vor — aber dann, mein wertheſter Herr St... muͤßten wir uns noch uͤber den Mahler der Grazien einverſtehen? .. den find’ ich in ſeinen Arbeiten ſo wenig, als in ſeinem Geſichte — Seltſam! Alle Stuͤcke von Boucher waren mißſtim- mig mit meinem Gefuͤhle. Jch konnte kaum Eins con amore anſehen — und gerade ſo gieng’s mir nachher mit ſeinem Geſichte. Nun kann ichs begreifen, ſagt’ ich beym erſten Anblicke ſeines Bil- des zu mir ſelber, warum dir nichts von Boucher behagen will.) — „Jch ſahe — (wieder Worte unſers Beobachters) einen Verurtheilten zum Rade, der mit „der Bosheit eines Teufels ſeinen Wohlthaͤter umgebracht hatte, und ſein Geſicht war hold und „offen, wie einer von Guido’s Engeln. Es iſt nicht unmoͤglich, auf den Galeeren Reguluskoͤpfe, „Veſtalengeſichter im Zuchthauſe zu finden!“ — (Das kann ich zum Theil aus eigner Erfahrung mit beſtaͤtigen. Fern alſo, daß ichs beſtreiten wolle! Aber dieſe Laſterhaften, ſo abſcheulich auch ihre Thaten — der aͤußern Form und Wuͤrkung nach, ja auch wenn ihr wollt, in Abſicht auf den innern Grund geweſen ſeyn moͤgen — waren dennoch keine grundboͤſe Menſchen. Welcher reine, edle, feingebaute, leicht reizbare Menſch — mit der zaͤrteſten Engelsſeele — hat nicht ſeine Teufelsaugenblicke — wo nichts als die Gelegenheit fehlt — in einer Stunde ihn zwey, drey un- geheure Laſter begehen zu laſſen — die ihn vor aller Welt als den abſcheulichſten Menſchen dar- ſtellen, oder vielmehr darzuſtellen ſcheinen — und er kann noch tauſendmal beſſer und edler ſeyn, als

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/145>, abgerufen am 22.11.2024.