"setzt) wird, je mehr sie zum Hange, zur Lieblingsneigung artet, je tiefer wird ihre Furche "gepflügt."
"Aber verborgener liegen Anlage, Geschick, Grad und Weise der Empfänglichkeit, Ta- "lent, Beruf und Geschäfftsfähigkeiten." -- (Sehr wahr -- aber dann auch, wenn man einmal den Ausdruck davon gefunden hat -- wie viel unverkennbarer in jedem uns wieder begegnenden Ob- jekte!) "Den Zornigen, den Wollüstigen, den Stolzen, den Unzufriedenen, den Boshaften, den "Wohlthätigen, den Mitleidigen zu entdecken, wird einem guten Beobachter nicht schwer; (Sehr wahr) -- "aber den Philosophen, den Dichter, den Künstler, und ihr mannichfaltiges Seelenver- "mögen wird er nicht mit gleicher Zuversicht schätzen; noch seltener wird er es anzugeben wagen, "wo die Anzeige jeder Eigenschaft sitzt; ob im Augknochen Verstand, Witz im Kinne, und Dich- "tergenie im Munde deutlich wird?" -- (Und dennoch hoff' ich, glaub' ich, weiß ich -- das fol- gende Jahrzehend wird dieß möglich machen, und der scharfsinnige Verfasser dieses Aufsatzes, ich wollte wetten dürfen, würd' es nicht nur möglich finden, selber können würd' ers, wenn er nur einen einzigen Tag dazu aussetzen wollte, eine wohlgereihete Sammlung von merkwürdigen Charak- tern in der Natur oder wahren Bildern durchzugehen und zu vergleichen.) "Allerdings, fährt unser Verfasser fort, "ahndet uns so etwas, wenn uns ein merkwürdiger Mann begegnet; und wir sind "alle weniger oder mehr empyrische Physiognomiker; wir finden im Blicke, in der Miene, im Lä- "cheln, im Mechanismus der Stirne, bald Schalkheit, bald Witz, bald forschenden Geist; wir "erwarten und weissagen nach einer dunkeln Vorempfindung sehr bestimmte Fähigkeiten aus der "Gestalt jedes neuen Bekannten, und wenn dieser Takt durch Uebung und Umgang mit vielerley "Menschen berichtigt wird, so gelingt es uns oft bis zur Bewunderung, den fremden Ankömmling "zu deuten."
"Jst das Gefühl? Jnnerer anerschaffener Sinn, der nicht erklärt werden kann? Oder ist "es Vergleichung? Jnduktion? Schluß von erforschten Charaktern auf unbekannte, durch irgend "eine äußere Aehnlichkeit veranlaßt? Gefühl ist die Aegide der Schwärmer und Thoren, und ob "es gleich oft mit der Wahrheit übereinstimmt, so ist es doch weder Anzeige, noch Bestätigung der "Wahrheit. Aber Jnduktion ist Urtheil auf Erfahrung gegründet, und ich mag auf keinem an- "dern Wege die Physiognomik studieren." --
Jch
III. Abſchnitt. II. Fragment.
„ſetzt) wird, je mehr ſie zum Hange, zur Lieblingsneigung artet, je tiefer wird ihre Furche „gepfluͤgt.“
„Aber verborgener liegen Anlage, Geſchick, Grad und Weiſe der Empfaͤnglichkeit, Ta- „lent, Beruf und Geſchaͤfftsfaͤhigkeiten.“ — (Sehr wahr — aber dann auch, wenn man einmal den Ausdruck davon gefunden hat — wie viel unverkennbarer in jedem uns wieder begegnenden Ob- jekte!) „Den Zornigen, den Wolluͤſtigen, den Stolzen, den Unzufriedenen, den Boshaften, den „Wohlthaͤtigen, den Mitleidigen zu entdecken, wird einem guten Beobachter nicht ſchwer; (Sehr wahr) — „aber den Philoſophen, den Dichter, den Kuͤnſtler, und ihr mannichfaltiges Seelenver- „moͤgen wird er nicht mit gleicher Zuverſicht ſchaͤtzen; noch ſeltener wird er es anzugeben wagen, „wo die Anzeige jeder Eigenſchaft ſitzt; ob im Augknochen Verſtand, Witz im Kinne, und Dich- „tergenie im Munde deutlich wird?“ — (Und dennoch hoff’ ich, glaub’ ich, weiß ich — das fol- gende Jahrzehend wird dieß moͤglich machen, und der ſcharfſinnige Verfaſſer dieſes Aufſatzes, ich wollte wetten duͤrfen, wuͤrd’ es nicht nur moͤglich finden, ſelber koͤnnen wuͤrd’ ers, wenn er nur einen einzigen Tag dazu ausſetzen wollte, eine wohlgereihete Sammlung von merkwuͤrdigen Charak- tern in der Natur oder wahren Bildern durchzugehen und zu vergleichen.) „Allerdings, faͤhrt unſer Verfaſſer fort, „ahndet uns ſo etwas, wenn uns ein merkwuͤrdiger Mann begegnet; und wir ſind „alle weniger oder mehr empyriſche Phyſiognomiker; wir finden im Blicke, in der Miene, im Laͤ- „cheln, im Mechanismus der Stirne, bald Schalkheit, bald Witz, bald forſchenden Geiſt; wir „erwarten und weiſſagen nach einer dunkeln Vorempfindung ſehr beſtimmte Faͤhigkeiten aus der „Geſtalt jedes neuen Bekannten, und wenn dieſer Takt durch Uebung und Umgang mit vielerley „Menſchen berichtigt wird, ſo gelingt es uns oft bis zur Bewunderung, den fremden Ankoͤmmling „zu deuten.“
„Jſt das Gefuͤhl? Jnnerer anerſchaffener Sinn, der nicht erklaͤrt werden kann? Oder iſt „es Vergleichung? Jnduktion? Schluß von erforſchten Charaktern auf unbekannte, durch irgend „eine aͤußere Aehnlichkeit veranlaßt? Gefuͤhl iſt die Aegide der Schwaͤrmer und Thoren, und ob „es gleich oft mit der Wahrheit uͤbereinſtimmt, ſo iſt es doch weder Anzeige, noch Beſtaͤtigung der „Wahrheit. Aber Jnduktion iſt Urtheil auf Erfahrung gegruͤndet, und ich mag auf keinem an- „dern Wege die Phyſiognomik ſtudieren.“ —
Jch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><cit><quote><pbfacs="#f0140"n="90"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">III.</hi> Abſchnitt. <hirendition="#aq">II.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>„ſetzt) wird, je mehr ſie zum Hange, zur Lieblingsneigung artet, je tiefer wird ihre Furche<lb/>„gepfluͤgt.“</quote></cit><lb/><p>„Aber verborgener liegen Anlage, Geſchick, Grad und Weiſe der Empfaͤnglichkeit, Ta-<lb/>„lent, Beruf und Geſchaͤfftsfaͤhigkeiten.“— (Sehr wahr — aber dann auch, wenn man einmal<lb/>
den Ausdruck davon gefunden hat — wie viel unverkennbarer in jedem uns wieder begegnenden Ob-<lb/>
jekte!) „Den Zornigen, den Wolluͤſtigen, den Stolzen, den Unzufriedenen, den Boshaften, den<lb/>„Wohlthaͤtigen, den Mitleidigen zu entdecken, wird einem guten Beobachter nicht ſchwer; (Sehr<lb/>
wahr) —„aber den Philoſophen, den Dichter, den Kuͤnſtler, und ihr mannichfaltiges Seelenver-<lb/>„moͤgen wird er nicht mit gleicher Zuverſicht ſchaͤtzen; noch ſeltener wird er es anzugeben wagen,<lb/>„<hirendition="#fr">wo</hi> die Anzeige jeder Eigenſchaft ſitzt; ob im Augknochen Verſtand, Witz im Kinne, und Dich-<lb/>„tergenie im Munde deutlich wird?“— (Und dennoch hoff’ ich, glaub’ ich, weiß ich — das fol-<lb/>
gende Jahrzehend wird dieß moͤglich machen, und der ſcharfſinnige Verfaſſer dieſes Aufſatzes, ich<lb/>
wollte wetten duͤrfen, wuͤrd’ es nicht nur moͤglich finden, ſelber koͤnnen wuͤrd’ ers, wenn er nur<lb/>
einen einzigen Tag dazu ausſetzen wollte, eine wohlgereihete Sammlung von merkwuͤrdigen Charak-<lb/>
tern in der Natur oder wahren Bildern durchzugehen und zu vergleichen.) „Allerdings, faͤhrt unſer<lb/>
Verfaſſer fort, „ahndet uns ſo etwas, wenn uns ein merkwuͤrdiger Mann begegnet; und wir ſind<lb/>„alle weniger oder mehr empyriſche Phyſiognomiker; wir finden im Blicke, in der Miene, im Laͤ-<lb/>„cheln, im Mechanismus der Stirne, bald Schalkheit, bald Witz, bald forſchenden Geiſt; wir<lb/>„erwarten und weiſſagen nach einer dunkeln Vorempfindung ſehr beſtimmte Faͤhigkeiten aus der<lb/>„Geſtalt jedes neuen Bekannten, und wenn dieſer Takt durch Uebung und Umgang mit vielerley<lb/>„Menſchen berichtigt wird, ſo gelingt es uns oft bis zur Bewunderung, den fremden Ankoͤmmling<lb/>„zu deuten.“</p><lb/><p>„Jſt das Gefuͤhl? Jnnerer anerſchaffener Sinn, der nicht erklaͤrt werden kann? Oder iſt<lb/>„es Vergleichung? Jnduktion? Schluß von erforſchten Charaktern auf unbekannte, durch irgend<lb/>„eine aͤußere Aehnlichkeit veranlaßt? Gefuͤhl iſt die Aegide der Schwaͤrmer und Thoren, und ob<lb/>„es gleich oft mit der Wahrheit uͤbereinſtimmt, ſo iſt es doch weder Anzeige, noch Beſtaͤtigung der<lb/>„Wahrheit. Aber Jnduktion iſt Urtheil auf Erfahrung gegruͤndet, und ich mag auf keinem an-<lb/>„dern Wege die Phyſiognomik ſtudieren.“—</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Jch</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[90/0140]
III. Abſchnitt. II. Fragment.
„ſetzt) wird, je mehr ſie zum Hange, zur Lieblingsneigung artet, je tiefer wird ihre Furche
„gepfluͤgt.“
„Aber verborgener liegen Anlage, Geſchick, Grad und Weiſe der Empfaͤnglichkeit, Ta-
„lent, Beruf und Geſchaͤfftsfaͤhigkeiten.“ — (Sehr wahr — aber dann auch, wenn man einmal
den Ausdruck davon gefunden hat — wie viel unverkennbarer in jedem uns wieder begegnenden Ob-
jekte!) „Den Zornigen, den Wolluͤſtigen, den Stolzen, den Unzufriedenen, den Boshaften, den
„Wohlthaͤtigen, den Mitleidigen zu entdecken, wird einem guten Beobachter nicht ſchwer; (Sehr
wahr) — „aber den Philoſophen, den Dichter, den Kuͤnſtler, und ihr mannichfaltiges Seelenver-
„moͤgen wird er nicht mit gleicher Zuverſicht ſchaͤtzen; noch ſeltener wird er es anzugeben wagen,
„wo die Anzeige jeder Eigenſchaft ſitzt; ob im Augknochen Verſtand, Witz im Kinne, und Dich-
„tergenie im Munde deutlich wird?“ — (Und dennoch hoff’ ich, glaub’ ich, weiß ich — das fol-
gende Jahrzehend wird dieß moͤglich machen, und der ſcharfſinnige Verfaſſer dieſes Aufſatzes, ich
wollte wetten duͤrfen, wuͤrd’ es nicht nur moͤglich finden, ſelber koͤnnen wuͤrd’ ers, wenn er nur
einen einzigen Tag dazu ausſetzen wollte, eine wohlgereihete Sammlung von merkwuͤrdigen Charak-
tern in der Natur oder wahren Bildern durchzugehen und zu vergleichen.) „Allerdings, faͤhrt unſer
Verfaſſer fort, „ahndet uns ſo etwas, wenn uns ein merkwuͤrdiger Mann begegnet; und wir ſind
„alle weniger oder mehr empyriſche Phyſiognomiker; wir finden im Blicke, in der Miene, im Laͤ-
„cheln, im Mechanismus der Stirne, bald Schalkheit, bald Witz, bald forſchenden Geiſt; wir
„erwarten und weiſſagen nach einer dunkeln Vorempfindung ſehr beſtimmte Faͤhigkeiten aus der
„Geſtalt jedes neuen Bekannten, und wenn dieſer Takt durch Uebung und Umgang mit vielerley
„Menſchen berichtigt wird, ſo gelingt es uns oft bis zur Bewunderung, den fremden Ankoͤmmling
„zu deuten.“
„Jſt das Gefuͤhl? Jnnerer anerſchaffener Sinn, der nicht erklaͤrt werden kann? Oder iſt
„es Vergleichung? Jnduktion? Schluß von erforſchten Charaktern auf unbekannte, durch irgend
„eine aͤußere Aehnlichkeit veranlaßt? Gefuͤhl iſt die Aegide der Schwaͤrmer und Thoren, und ob
„es gleich oft mit der Wahrheit uͤbereinſtimmt, ſo iſt es doch weder Anzeige, noch Beſtaͤtigung der
„Wahrheit. Aber Jnduktion iſt Urtheil auf Erfahrung gegruͤndet, und ich mag auf keinem an-
„dern Wege die Phyſiognomik ſtudieren.“ —
Jch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/140>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.