Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweytes Fragment.
Erklärung eines Oldenburgischen Gelehrten über die
Physiognomik.
(Sammt einigen Einschiebseln von dem Verfasser.)
"Jch bin von der Wahrheit der Physiognomik, von der Allbedeutsamkeit jedes Zuges unserer
"Gestalt, so lebhaft, als Lavater überzeugt. Es ist wahr, daß sich der Umriß der Seele in den
"Wölbungen ihres Schleyers bildet, und ihre Bewegung in den Falten ihres Kleides."

"Even in the outward shape dawn's the high Expression of the Mind."
"Ueberall ist Kette, Harmonie, Würkung und Ursache in der Natur; auch zwischen dem
"äußern und innern Menschen; wir arten nach unsern Aeltern, nach der Erde, die uns trägt, nach
"der Sonne, die uns wärmt, nach der Nahrung, die sich mit unserer Substanz assimilirt, nach
"den Schicksalen unsers Lebens. Alles das modifizirt, reparirt und ciselirt am Geist und am Kör-
"per; und die Spur des Meißels wird sichtbar; jeder Schwung, jede Bucht des äußern Con-
"tours schmiegt sich an die Jndividualität des innern Menschen, wie ein feuchtes Gewand im
"Bade. Mit einer nur wenig veränderten Nase wäre Cäsar nicht der Cäsar, den wir kennen,
"geworden."

"Jst nun vollends die Seele in Bewegung, so leuchtet sie durch, wie der Mond durch Os-
"sians Geister. Jede Leidenschaft hat im ganzen Menschengeschlecht immer einerley Sprache. --
(Vom Aufgang bis zum Niedergang sieht der Neid nicht so vergnügt aus, wie die Großmuth --
und die Unzufriedenheit nicht, wie die Geduld. Die Geduld ist allenthalben, wo sie dieselbe ist,
durch dieselben Zeichen merkbar. So der Zorn, so der Neid. So jede Leidenschaft.) "Phi-
"loktet
ächzet anders, als ein gepeitschter Knecht; Raphaels Engel lächeln edler, als die Marsch-
"engel Rembrands; aber immer haben Freude und Schmerz ein einziges, ein eigenthümliches
"Spiel; sie arbeiten nach einerley Gesetze; auf einerley Muskeln und Nerven; so zahllos die Nüan-
"ces ihres Ausdrucks auch sind, und je öfter die Leidenschaft wiederholt (oder in Bewegung ge-
setzt
Phys. Fragm. III Versuch. M
Zweytes Fragment.
Erklaͤrung eines Oldenburgiſchen Gelehrten uͤber die
Phyſiognomik.
(Sammt einigen Einſchiebſeln von dem Verfaſſer.)
Jch bin von der Wahrheit der Phyſiognomik, von der Allbedeutſamkeit jedes Zuges unſerer
„Geſtalt, ſo lebhaft, als Lavater uͤberzeugt. Es iſt wahr, daß ſich der Umriß der Seele in den
„Woͤlbungen ihres Schleyers bildet, und ihre Bewegung in den Falten ihres Kleides.“

„Even in the outward shape dawn’s the high Expreſſion of the Mind.“
„Ueberall iſt Kette, Harmonie, Wuͤrkung und Urſache in der Natur; auch zwiſchen dem
„aͤußern und innern Menſchen; wir arten nach unſern Aeltern, nach der Erde, die uns traͤgt, nach
„der Sonne, die uns waͤrmt, nach der Nahrung, die ſich mit unſerer Subſtanz aſſimilirt, nach
„den Schickſalen unſers Lebens. Alles das modifizirt, reparirt und ciſelirt am Geiſt und am Koͤr-
„per; und die Spur des Meißels wird ſichtbar; jeder Schwung, jede Bucht des aͤußern Con-
„tours ſchmiegt ſich an die Jndividualitaͤt des innern Menſchen, wie ein feuchtes Gewand im
„Bade. Mit einer nur wenig veraͤnderten Naſe waͤre Caͤſar nicht der Caͤſar, den wir kennen,
„geworden.“

„Jſt nun vollends die Seele in Bewegung, ſo leuchtet ſie durch, wie der Mond durch Oſ-
„ſians Geiſter. Jede Leidenſchaft hat im ganzen Menſchengeſchlecht immer einerley Sprache. —
(Vom Aufgang bis zum Niedergang ſieht der Neid nicht ſo vergnuͤgt aus, wie die Großmuth —
und die Unzufriedenheit nicht, wie die Geduld. Die Geduld iſt allenthalben, wo ſie dieſelbe iſt,
durch dieſelben Zeichen merkbar. So der Zorn, ſo der Neid. So jede Leidenſchaft.) „Phi-
„loktet
aͤchzet anders, als ein gepeitſchter Knecht; Raphaels Engel laͤcheln edler, als die Marſch-
„engel Rembrands; aber immer haben Freude und Schmerz ein einziges, ein eigenthuͤmliches
„Spiel; ſie arbeiten nach einerley Geſetze; auf einerley Muskeln und Nerven; ſo zahllos die Nuͤan-
çes ihres Ausdrucks auch ſind, und je oͤfter die Leidenſchaft wiederholt (oder in Bewegung ge-
ſetzt
Phyſ. Fragm. III Verſuch. M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0139" n="89"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Zweytes Fragment.<lb/>
Erkla&#x0364;rung eines Oldenburgi&#x017F;chen Gelehrten u&#x0364;ber die<lb/>
Phy&#x017F;iognomik.<lb/>
(Sammt einigen Ein&#x017F;chieb&#x017F;eln von dem Verfa&#x017F;&#x017F;er.)</hi> </head><lb/>
          <cit>
            <quote>&#x201E;<hi rendition="#in">J</hi>ch bin von der Wahrheit der Phy&#x017F;iognomik, von der Allbedeut&#x017F;amkeit jedes Zuges un&#x017F;erer<lb/>
&#x201E;Ge&#x017F;talt, &#x017F;o lebhaft, als <hi rendition="#fr">Lavater</hi> u&#x0364;berzeugt. Es i&#x017F;t wahr, daß &#x017F;ich der Umriß der Seele in den<lb/>
&#x201E;Wo&#x0364;lbungen ihres Schleyers bildet, und ihre Bewegung in den Falten ihres Kleides.&#x201C;</quote>
          </cit><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">&#x201E;Even in the outward shape dawn&#x2019;s the high Expre&#x017F;&#x017F;ion of the Mind.&#x201C;</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <cit>
            <quote>&#x201E;Ueberall i&#x017F;t Kette, Harmonie, Wu&#x0364;rkung und Ur&#x017F;ache in der Natur; auch zwi&#x017F;chen dem<lb/>
&#x201E;a&#x0364;ußern und innern Men&#x017F;chen; wir arten nach un&#x017F;ern Aeltern, nach der Erde, die uns tra&#x0364;gt, nach<lb/>
&#x201E;der Sonne, die uns wa&#x0364;rmt, nach der Nahrung, die &#x017F;ich mit un&#x017F;erer Sub&#x017F;tanz a&#x017F;&#x017F;imilirt, nach<lb/>
&#x201E;den Schick&#x017F;alen un&#x017F;ers Lebens. Alles das modifizirt, reparirt und ci&#x017F;elirt am Gei&#x017F;t und am Ko&#x0364;r-<lb/>
&#x201E;per; und die Spur des Meißels wird &#x017F;ichtbar; jeder Schwung, jede Bucht des a&#x0364;ußern Con-<lb/>
&#x201E;tours &#x017F;chmiegt &#x017F;ich an die Jndividualita&#x0364;t des innern Men&#x017F;chen, wie ein feuchtes Gewand im<lb/>
&#x201E;Bade. Mit einer nur wenig vera&#x0364;nderten Na&#x017F;e wa&#x0364;re <hi rendition="#fr">Ca&#x0364;&#x017F;ar</hi> nicht der <hi rendition="#fr">Ca&#x0364;&#x017F;ar,</hi> den wir kennen,<lb/>
&#x201E;geworden.&#x201C;</quote>
          </cit><lb/>
          <cit>
            <quote>&#x201E;J&#x017F;t nun vollends die Seele in Bewegung, &#x017F;o leuchtet &#x017F;ie durch, wie der Mond durch O&#x017F;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ians Gei&#x017F;ter. Jede Leiden&#x017F;chaft hat im ganzen Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht immer einerley Sprache. &#x2014;<lb/>
(Vom Aufgang bis zum Niedergang &#x017F;ieht der Neid nicht &#x017F;o vergnu&#x0364;gt aus, wie die Großmuth &#x2014;<lb/>
und die Unzufriedenheit nicht, wie die Geduld. Die Geduld i&#x017F;t allenthalben, <hi rendition="#fr">wo &#x017F;ie die&#x017F;elbe</hi> i&#x017F;t,<lb/>
durch die&#x017F;elben Zeichen merkbar. So der Zorn, &#x017F;o der Neid. So jede Leiden&#x017F;chaft.) &#x201E;<hi rendition="#fr">Phi-<lb/>
&#x201E;loktet</hi> a&#x0364;chzet anders, als ein gepeit&#x017F;chter Knecht; <hi rendition="#fr">Raphaels</hi> Engel la&#x0364;cheln edler, als die Mar&#x017F;ch-<lb/>
&#x201E;engel <hi rendition="#fr">Rembrands;</hi> aber immer haben Freude und Schmerz ein einziges, ein eigenthu&#x0364;mliches<lb/>
&#x201E;Spiel; &#x017F;ie arbeiten nach einerley Ge&#x017F;etze; auf einerley Muskeln und Nerven; &#x017F;o zahllos die Nu&#x0364;an-<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#aq">ç</hi>es ihres Ausdrucks auch &#x017F;ind, und je o&#x0364;fter die Leiden&#x017F;chaft wiederholt (oder in Bewegung ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">III</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> M</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;etzt</fw><lb/></quote>
          </cit>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0139] Zweytes Fragment. Erklaͤrung eines Oldenburgiſchen Gelehrten uͤber die Phyſiognomik. (Sammt einigen Einſchiebſeln von dem Verfaſſer.) „Jch bin von der Wahrheit der Phyſiognomik, von der Allbedeutſamkeit jedes Zuges unſerer „Geſtalt, ſo lebhaft, als Lavater uͤberzeugt. Es iſt wahr, daß ſich der Umriß der Seele in den „Woͤlbungen ihres Schleyers bildet, und ihre Bewegung in den Falten ihres Kleides.“ „Even in the outward shape dawn’s the high Expreſſion of the Mind.“ „Ueberall iſt Kette, Harmonie, Wuͤrkung und Urſache in der Natur; auch zwiſchen dem „aͤußern und innern Menſchen; wir arten nach unſern Aeltern, nach der Erde, die uns traͤgt, nach „der Sonne, die uns waͤrmt, nach der Nahrung, die ſich mit unſerer Subſtanz aſſimilirt, nach „den Schickſalen unſers Lebens. Alles das modifizirt, reparirt und ciſelirt am Geiſt und am Koͤr- „per; und die Spur des Meißels wird ſichtbar; jeder Schwung, jede Bucht des aͤußern Con- „tours ſchmiegt ſich an die Jndividualitaͤt des innern Menſchen, wie ein feuchtes Gewand im „Bade. Mit einer nur wenig veraͤnderten Naſe waͤre Caͤſar nicht der Caͤſar, den wir kennen, „geworden.“ „Jſt nun vollends die Seele in Bewegung, ſo leuchtet ſie durch, wie der Mond durch Oſ- „ſians Geiſter. Jede Leidenſchaft hat im ganzen Menſchengeſchlecht immer einerley Sprache. — (Vom Aufgang bis zum Niedergang ſieht der Neid nicht ſo vergnuͤgt aus, wie die Großmuth — und die Unzufriedenheit nicht, wie die Geduld. Die Geduld iſt allenthalben, wo ſie dieſelbe iſt, durch dieſelben Zeichen merkbar. So der Zorn, ſo der Neid. So jede Leidenſchaft.) „Phi- „loktet aͤchzet anders, als ein gepeitſchter Knecht; Raphaels Engel laͤcheln edler, als die Marſch- „engel Rembrands; aber immer haben Freude und Schmerz ein einziges, ein eigenthuͤmliches „Spiel; ſie arbeiten nach einerley Geſetze; auf einerley Muskeln und Nerven; ſo zahllos die Nuͤan- „çes ihres Ausdrucks auch ſind, und je oͤfter die Leidenſchaft wiederholt (oder in Bewegung ge- ſetzt Phyſ. Fragm. III Verſuch. M

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/139
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/139>, abgerufen am 25.11.2024.