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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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VI. Abschnitt. I. Fragment.
sche Anlage decken; aber sie ändert die Form nicht. Wachsthum der Kräfte und Leidenschaften
geben dem ersten unbestimmten Entwurfe, der Knabenphysiognomie heißt, die festere Zeichnung,
die Schattirung und das Colorit der Mannheit. Es giebt jugendliche Physiognomien, die
den künftigen Mann, oder Nichtmann zeigen. Alle zeigen ihn -- aber niemanden als den größten
Menschenforschern. Freylich wo die Form des Kopfes (aber sie ist's sehr selten) schön, vordrin-
gend, proportionirt, groß gegliedert, scharf gezeichnet, und nicht zu matt colorirt ist -- da wird
schwerlich was gemeines seyn ... Das weiß ich; weiß auch -- wo die Form mißgebildet, be-
sonders schief, gedehnt, unbestimmt, oder zu hart bestimmt ist, daß da selten viel zu erwarten ist.
Aber wie sehr verändern sich die Formen des jugendlichen Gesichtes! selber das Knochenge-
bäude!

Man sagt so viel von der Offenheit, Unverdorbenheit, Einfalt und Naivete' kindlicher und
jugendlicher Gesichter. Jch laß es gelten; aber -- ich bin dennoch so glücklich nicht, daß ich so
schnell und so sicher in jungen Gesichtern lesen könne, als ich's (so wenig es auch sey) in männlichern
kann. Je mehr ich mit Kindern umgehe, desto schwerer wird's mir, über ihren Charakter ein
sicheres, entscheidendes Wort zu sagen. Nicht, daß mir nicht Kinder- und Knabenphysiognomien
von der gewissesten und auffallendsten Bedeutung häufig begegnen. Aber sehr selten ist die Grund-
physiognomie der jüngern Menschen so bestimmt, daß man darinn leicht den Mann lesen könnte --
Die frappantesten, vortheilhaftesten Knabengesichter können, wie leicht, durch Zufälle, einen
Schrecken, einen Fall, eine harte Begegnung der Aeltern in ihrem Jnnwendigen verstimmt wer-
den, ohne daß die Mißstimmung an die ganze Form reicht. Die schöne, vielversprechende Form
bleibt! Es bleibt die feste Stirn; bleibt das tiefe, scharfe Auge; der leicht offne, freye, schnellbe-
wegliche Mund -- Nur Ein Tropfen Trübe in den sonst so hellen Blick -- nur eine, selten viel-
leicht, kaum merkbar vielleicht zuckende Schiefheit des Mundes -- so ist der Hoffnungsvolle herab-
gewürdigt -- und beynah unerkennbar gemacht!

Einfalt -- Grund und Boden der Mannichfaltigkeit -- wie Unschuld Grund und Boden
aller Laster. --

Einfalt -- des Jünglingsgesichtes -- nein! des Knabengesichtes -- in dir sieht nur der
allsehende aller noch schlafenden Leidenschaften Pfade -- die leisen Falten des Jünglings, die festern

des

VI. Abſchnitt. I. Fragment.
ſche Anlage decken; aber ſie aͤndert die Form nicht. Wachsthum der Kraͤfte und Leidenſchaften
geben dem erſten unbeſtimmten Entwurfe, der Knabenphyſiognomie heißt, die feſtere Zeichnung,
die Schattirung und das Colorit der Mannheit. Es giebt jugendliche Phyſiognomien, die
den kuͤnftigen Mann, oder Nichtmann zeigen. Alle zeigen ihn — aber niemanden als den groͤßten
Menſchenforſchern. Freylich wo die Form des Kopfes (aber ſie iſt’s ſehr ſelten) ſchoͤn, vordrin-
gend, proportionirt, groß gegliedert, ſcharf gezeichnet, und nicht zu matt colorirt iſt — da wird
ſchwerlich was gemeines ſeyn ... Das weiß ich; weiß auch — wo die Form mißgebildet, be-
ſonders ſchief, gedehnt, unbeſtimmt, oder zu hart beſtimmt iſt, daß da ſelten viel zu erwarten iſt.
Aber wie ſehr veraͤndern ſich die Formen des jugendlichen Geſichtes! ſelber das Knochenge-
baͤude!

Man ſagt ſo viel von der Offenheit, Unverdorbenheit, Einfalt und Naivete’ kindlicher und
jugendlicher Geſichter. Jch laß es gelten; aber — ich bin dennoch ſo gluͤcklich nicht, daß ich ſo
ſchnell und ſo ſicher in jungen Geſichtern leſen koͤnne, als ich’s (ſo wenig es auch ſey) in maͤnnlichern
kann. Je mehr ich mit Kindern umgehe, deſto ſchwerer wird’s mir, uͤber ihren Charakter ein
ſicheres, entſcheidendes Wort zu ſagen. Nicht, daß mir nicht Kinder- und Knabenphyſiognomien
von der gewiſſeſten und auffallendſten Bedeutung haͤufig begegnen. Aber ſehr ſelten iſt die Grund-
phyſiognomie der juͤngern Menſchen ſo beſtimmt, daß man darinn leicht den Mann leſen koͤnnte —
Die frappanteſten, vortheilhafteſten Knabengeſichter koͤnnen, wie leicht, durch Zufaͤlle, einen
Schrecken, einen Fall, eine harte Begegnung der Aeltern in ihrem Jnnwendigen verſtimmt wer-
den, ohne daß die Mißſtimmung an die ganze Form reicht. Die ſchoͤne, vielverſprechende Form
bleibt! Es bleibt die feſte Stirn; bleibt das tiefe, ſcharfe Auge; der leicht offne, freye, ſchnellbe-
wegliche Mund — Nur Ein Tropfen Truͤbe in den ſonſt ſo hellen Blick — nur eine, ſelten viel-
leicht, kaum merkbar vielleicht zuckende Schiefheit des Mundes — ſo iſt der Hoffnungsvolle herab-
gewuͤrdigt — und beynah unerkennbar gemacht!

Einfalt — Grund und Boden der Mannichfaltigkeit — wie Unſchuld Grund und Boden
aller Laſter. —

Einfalt — des Juͤnglingsgeſichtes — nein! des Knabengeſichtes — in dir ſieht nur der
allſehende aller noch ſchlafenden Leidenſchaften Pfade — die leiſen Falten des Juͤnglings, die feſtern

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[136/0214] VI. Abſchnitt. I. Fragment. ſche Anlage decken; aber ſie aͤndert die Form nicht. Wachsthum der Kraͤfte und Leidenſchaften geben dem erſten unbeſtimmten Entwurfe, der Knabenphyſiognomie heißt, die feſtere Zeichnung, die Schattirung und das Colorit der Mannheit. Es giebt jugendliche Phyſiognomien, die den kuͤnftigen Mann, oder Nichtmann zeigen. Alle zeigen ihn — aber niemanden als den groͤßten Menſchenforſchern. Freylich wo die Form des Kopfes (aber ſie iſt’s ſehr ſelten) ſchoͤn, vordrin- gend, proportionirt, groß gegliedert, ſcharf gezeichnet, und nicht zu matt colorirt iſt — da wird ſchwerlich was gemeines ſeyn ... Das weiß ich; weiß auch — wo die Form mißgebildet, be- ſonders ſchief, gedehnt, unbeſtimmt, oder zu hart beſtimmt iſt, daß da ſelten viel zu erwarten iſt. Aber wie ſehr veraͤndern ſich die Formen des jugendlichen Geſichtes! ſelber das Knochenge- baͤude! Man ſagt ſo viel von der Offenheit, Unverdorbenheit, Einfalt und Naivete’ kindlicher und jugendlicher Geſichter. Jch laß es gelten; aber — ich bin dennoch ſo gluͤcklich nicht, daß ich ſo ſchnell und ſo ſicher in jungen Geſichtern leſen koͤnne, als ich’s (ſo wenig es auch ſey) in maͤnnlichern kann. Je mehr ich mit Kindern umgehe, deſto ſchwerer wird’s mir, uͤber ihren Charakter ein ſicheres, entſcheidendes Wort zu ſagen. Nicht, daß mir nicht Kinder- und Knabenphyſiognomien von der gewiſſeſten und auffallendſten Bedeutung haͤufig begegnen. Aber ſehr ſelten iſt die Grund- phyſiognomie der juͤngern Menſchen ſo beſtimmt, daß man darinn leicht den Mann leſen koͤnnte — Die frappanteſten, vortheilhafteſten Knabengeſichter koͤnnen, wie leicht, durch Zufaͤlle, einen Schrecken, einen Fall, eine harte Begegnung der Aeltern in ihrem Jnnwendigen verſtimmt wer- den, ohne daß die Mißſtimmung an die ganze Form reicht. Die ſchoͤne, vielverſprechende Form bleibt! Es bleibt die feſte Stirn; bleibt das tiefe, ſcharfe Auge; der leicht offne, freye, ſchnellbe- wegliche Mund — Nur Ein Tropfen Truͤbe in den ſonſt ſo hellen Blick — nur eine, ſelten viel- leicht, kaum merkbar vielleicht zuckende Schiefheit des Mundes — ſo iſt der Hoffnungsvolle herab- gewuͤrdigt — und beynah unerkennbar gemacht! Einfalt — Grund und Boden der Mannichfaltigkeit — wie Unſchuld Grund und Boden aller Laſter. — Einfalt — des Juͤnglingsgeſichtes — nein! des Knabengeſichtes — in dir ſieht nur der allſehende aller noch ſchlafenden Leidenſchaften Pfade — die leiſen Falten des Juͤnglings, die feſtern des

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/214>, abgerufen am 28.11.2024.