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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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V. Fragment. Etwas über die Einwendungen

Giebt man dieß zu von dem Zustande der Freude, der Traurigkeit, der Ruhe; -- warum
nicht von den übrigen Zuständen, des Stolzes, der Demuth, der Geduld, der Großmuth? u. s. f.

Nach Gesetzen fliegt der Stein in die Höhe, wenn ich ihn mit Gewalt hinaufwerfe -- nach
denselben Gesetzen fällt er wieder auf die Erde -- sollt' er nicht nach ebendenselben Gesetzen liegen
bleiben, wenn ihn niemand bewegt? -- --

Nach Gesetzen drückt sich die Freude so -- Traurigkeit so -- die Ruhe so aus -- warum
Zorn, Sanftmuth, Stolz, Demuth u. s. f. nicht auch nach Gesetzen, nach denselben Gesetzen?

Entweder alles in der Natur hat seinen Urheber oder nichts; alles steht unter
Gesetzen, oder nichts; alles ist Ursach oder Würkung, oder nichts
-- Sollte dieß nicht
eins der ersten Axiom der Philosophie seyn? -- und wenn dieß es nun seyn muß; -- wie ist die
Physiognomik schon zum voraus gegen alle Einwendungen, selbst gegen die, worauf man noch
nichts zu antworten weiß, gerettet -- sobald zugegeben wird: "daß gewisse Züge bey allen Men-
"schen charakteristisch sind, -- so charakteristisch als die Augen für das Gesicht?" --

"Aber, wie verschieden, wird man sagen, sind die Ausdrücke der Freude, der Traurig-
"keit? des Denkens? des Nichtdenkens u. s. f. wie da auf Regeln kommen können?" -- Diese
Einwendung ist im ersten Bande zum Theil schon beantwortet -- doch, weil wir hier den Ein-
wendungen ein besonderes Fragment widmen, so sey auch dieß noch als Antwort beygefügt ......

Wie verschieden unter sich sind die Augen aller Menschen -- aller sehenden Geschöpfe --
das Auge des Adlers und des Maulwurfs, des Elephanten und der Mücke? -- und dennoch
vermuthen und glauben wir von allen, die nicht Merkmale der Erstorbenheit oder der Krankheit
an sich tragen, daß sie sehen. --

Wie die Verschiedenheit der Augen, so der Ohren, so der Füße! von denen allen wir
dennoch glauben, daß sie zum Hören und zum Gehen gegeben seyn?

Verhindert uns nun diese Verschiedenheit nicht, Augen, Ohren und Füße für Aus-
drücke, für Organen der Sehenskraft, Gehörkraft, Gehenskraft anzusehen -- warum urthei-
len wir nicht so von allen Zügen und Lineamenten des menschlichen Körpers? -- Die Aus-
drücke ähnlicher Gemüthsverfassungen können nicht verschiedener seyn, als die Augen, die Oh-

ren,
V. Fragment. Etwas uͤber die Einwendungen

Giebt man dieß zu von dem Zuſtande der Freude, der Traurigkeit, der Ruhe; — warum
nicht von den uͤbrigen Zuſtaͤnden, des Stolzes, der Demuth, der Geduld, der Großmuth? u. ſ. f.

Nach Geſetzen fliegt der Stein in die Hoͤhe, wenn ich ihn mit Gewalt hinaufwerfe — nach
denſelben Geſetzen faͤllt er wieder auf die Erde — ſollt’ er nicht nach ebendenſelben Geſetzen liegen
bleiben, wenn ihn niemand bewegt? — —

Nach Geſetzen druͤckt ſich die Freude ſo — Traurigkeit ſo — die Ruhe ſo aus — warum
Zorn, Sanftmuth, Stolz, Demuth u. ſ. f. nicht auch nach Geſetzen, nach denſelben Geſetzen?

Entweder alles in der Natur hat ſeinen Urheber oder nichts; alles ſteht unter
Geſetzen, oder nichts; alles iſt Urſach oder Wuͤrkung, oder nichts
— Sollte dieß nicht
eins der erſten Axiom der Philoſophie ſeyn? — und wenn dieß es nun ſeyn muß; — wie iſt die
Phyſiognomik ſchon zum voraus gegen alle Einwendungen, ſelbſt gegen die, worauf man noch
nichts zu antworten weiß, gerettet — ſobald zugegeben wird: „daß gewiſſe Zuͤge bey allen Men-
„ſchen charakteriſtiſch ſind, — ſo charakteriſtiſch als die Augen fuͤr das Geſicht?“ —

„Aber, wie verſchieden, wird man ſagen, ſind die Ausdruͤcke der Freude, der Traurig-
„keit? des Denkens? des Nichtdenkens u. ſ. f. wie da auf Regeln kommen koͤnnen?“ — Dieſe
Einwendung iſt im erſten Bande zum Theil ſchon beantwortet — doch, weil wir hier den Ein-
wendungen ein beſonderes Fragment widmen, ſo ſey auch dieß noch als Antwort beygefuͤgt ......

Wie verſchieden unter ſich ſind die Augen aller Menſchen — aller ſehenden Geſchoͤpfe —
das Auge des Adlers und des Maulwurfs, des Elephanten und der Muͤcke? — und dennoch
vermuthen und glauben wir von allen, die nicht Merkmale der Erſtorbenheit oder der Krankheit
an ſich tragen, daß ſie ſehen.

Wie die Verſchiedenheit der Augen, ſo der Ohren, ſo der Fuͤße! von denen allen wir
dennoch glauben, daß ſie zum Hoͤren und zum Gehen gegeben ſeyn?

Verhindert uns nun dieſe Verſchiedenheit nicht, Augen, Ohren und Fuͤße fuͤr Aus-
druͤcke, fuͤr Organen der Sehenskraft, Gehoͤrkraft, Gehenskraft anzuſehen — warum urthei-
len wir nicht ſo von allen Zuͤgen und Lineamenten des menſchlichen Koͤrpers? — Die Aus-
druͤcke aͤhnlicher Gemuͤthsverfaſſungen koͤnnen nicht verſchiedener ſeyn, als die Augen, die Oh-

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[46/0068] V. Fragment. Etwas uͤber die Einwendungen Giebt man dieß zu von dem Zuſtande der Freude, der Traurigkeit, der Ruhe; — warum nicht von den uͤbrigen Zuſtaͤnden, des Stolzes, der Demuth, der Geduld, der Großmuth? u. ſ. f. Nach Geſetzen fliegt der Stein in die Hoͤhe, wenn ich ihn mit Gewalt hinaufwerfe — nach denſelben Geſetzen faͤllt er wieder auf die Erde — ſollt’ er nicht nach ebendenſelben Geſetzen liegen bleiben, wenn ihn niemand bewegt? — — Nach Geſetzen druͤckt ſich die Freude ſo — Traurigkeit ſo — die Ruhe ſo aus — warum Zorn, Sanftmuth, Stolz, Demuth u. ſ. f. nicht auch nach Geſetzen, nach denſelben Geſetzen? Entweder alles in der Natur hat ſeinen Urheber oder nichts; alles ſteht unter Geſetzen, oder nichts; alles iſt Urſach oder Wuͤrkung, oder nichts — Sollte dieß nicht eins der erſten Axiom der Philoſophie ſeyn? — und wenn dieß es nun ſeyn muß; — wie iſt die Phyſiognomik ſchon zum voraus gegen alle Einwendungen, ſelbſt gegen die, worauf man noch nichts zu antworten weiß, gerettet — ſobald zugegeben wird: „daß gewiſſe Zuͤge bey allen Men- „ſchen charakteriſtiſch ſind, — ſo charakteriſtiſch als die Augen fuͤr das Geſicht?“ — „Aber, wie verſchieden, wird man ſagen, ſind die Ausdruͤcke der Freude, der Traurig- „keit? des Denkens? des Nichtdenkens u. ſ. f. wie da auf Regeln kommen koͤnnen?“ — Dieſe Einwendung iſt im erſten Bande zum Theil ſchon beantwortet — doch, weil wir hier den Ein- wendungen ein beſonderes Fragment widmen, ſo ſey auch dieß noch als Antwort beygefuͤgt ...... Wie verſchieden unter ſich ſind die Augen aller Menſchen — aller ſehenden Geſchoͤpfe — das Auge des Adlers und des Maulwurfs, des Elephanten und der Muͤcke? — und dennoch vermuthen und glauben wir von allen, die nicht Merkmale der Erſtorbenheit oder der Krankheit an ſich tragen, daß ſie ſehen. — Wie die Verſchiedenheit der Augen, ſo der Ohren, ſo der Fuͤße! von denen allen wir dennoch glauben, daß ſie zum Hoͤren und zum Gehen gegeben ſeyn? Verhindert uns nun dieſe Verſchiedenheit nicht, Augen, Ohren und Fuͤße fuͤr Aus- druͤcke, fuͤr Organen der Sehenskraft, Gehoͤrkraft, Gehenskraft anzuſehen — warum urthei- len wir nicht ſo von allen Zuͤgen und Lineamenten des menſchlichen Koͤrpers? — Die Aus- druͤcke aͤhnlicher Gemuͤthsverfaſſungen koͤnnen nicht verſchiedener ſeyn, als die Augen, die Oh- ren,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/68>, abgerufen am 24.11.2024.