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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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V. Fragment. Etwas über die Einwendungen
"erfahren." -- Wenn zehentausende das sagen, was beweist's gegen einen einzigen Verständigen
und Redlichen, der sagen kann: "aber ich hab's wahrgenommen, und ihr könnt's auch wahrneh-
"men, wenn ihr wollt." --

Gegen das in die Augen leuchtende Daseyn einer Sache läßt sich keine gegründete Einwen-
dung machen. Etwas positifes, ein Factum kann durch nichts aufgehoben werden. Es läßt sich
kein positifes Factum dagegen anführen ... und alle Einwendungen dagegen sind nur negativ...

Wenn ich z. E. einen auferstandenen Todten gesehen, mit ihm geredet, mit ihm gegessen
und getrunken, ihn mehrmals betastet hätte, kurz, von seiner Erscheinung vollkommen so sinnlich
überzeugt wäre, wie von dem Daseyn meines noch lebenden Freundes, dem ich dieß Blatt vor-
lese -- wie nichts wären mir dann alle Einwendungen von der Unzuverlässigkeit der Sinne? von
der Unmöglichkeit, daß ein Todter auferstehe? von unzähligen falschen Erzählungen, die man von
ähnlichen Erscheinungen gemacht habe? von der allgemeinen Nichterfahrung ganzer Jahrhunderte,
ganzer Menschengeschlechter in Absicht auf eine solche Erscheinung? u. s. f. -- Alles dieß würde
mich zwar billig sehr behutsam machen in der Untersuchung der Würklichkeit der Thatsache --
aber wenn ich einmal hievon, vollkommen so, wie von der Existenz meines lebenden Freundes,
überzeugt wäre -- würde ich mich durch alle diese Einwendungen, so unbeantwortlich sie auch
scheinen möchten, (im Grunde könnten sie's doch nur scheinen, und nicht seyn --) nicht irre
machen lassen.

Man wende dieses auf die Physiognomik an. Positife Beweise für die wahrhafte und
erkennbare Bedeutung menschlicher Gesichter und Gesichtszüge, wider deren Klarheit und Zuver-
lässigkeit nichts eingewendet werden kann, machen unzählige Einwendungen, die vielleicht nicht
beantwortet werden können, völlig unbedeutend.

Man suche also erst sich mit dem Positifen, das die Physiognomik liefert, bekannt zu
machen. -- Man halte sich erst allein an dem gewiß Wahren fest, und man wird sich bald im
Stande befinden, sehr viele Einwendungen zu beantworten, oder als keiner Beantwortung wür-
dig auf die Seite zu schaffen.

Nach dem Maaße, wie der Mensch das Positife bemerkt und fest hält, -- nach demsel-
ben läßt sich, wie mich deucht, seine Kraft und Ständigkeit messen. Der mittelmäßige, der

seichte

V. Fragment. Etwas uͤber die Einwendungen
„erfahren.“ — Wenn zehentauſende das ſagen, was beweiſt’s gegen einen einzigen Verſtaͤndigen
und Redlichen, der ſagen kann: „aber ich hab’s wahrgenommen, und ihr koͤnnt’s auch wahrneh-
„men, wenn ihr wollt.“ —

Gegen das in die Augen leuchtende Daſeyn einer Sache laͤßt ſich keine gegruͤndete Einwen-
dung machen. Etwas poſitifes, ein Factum kann durch nichts aufgehoben werden. Es laͤßt ſich
kein poſitifes Factum dagegen anfuͤhren ... und alle Einwendungen dagegen ſind nur negativ...

Wenn ich z. E. einen auferſtandenen Todten geſehen, mit ihm geredet, mit ihm gegeſſen
und getrunken, ihn mehrmals betaſtet haͤtte, kurz, von ſeiner Erſcheinung vollkommen ſo ſinnlich
uͤberzeugt waͤre, wie von dem Daſeyn meines noch lebenden Freundes, dem ich dieß Blatt vor-
leſe — wie nichts waͤren mir dann alle Einwendungen von der Unzuverlaͤſſigkeit der Sinne? von
der Unmoͤglichkeit, daß ein Todter auferſtehe? von unzaͤhligen falſchen Erzaͤhlungen, die man von
aͤhnlichen Erſcheinungen gemacht habe? von der allgemeinen Nichterfahrung ganzer Jahrhunderte,
ganzer Menſchengeſchlechter in Abſicht auf eine ſolche Erſcheinung? u. ſ. f. — Alles dieß wuͤrde
mich zwar billig ſehr behutſam machen in der Unterſuchung der Wuͤrklichkeit der Thatſache —
aber wenn ich einmal hievon, vollkommen ſo, wie von der Exiſtenz meines lebenden Freundes,
uͤberzeugt waͤre — wuͤrde ich mich durch alle dieſe Einwendungen, ſo unbeantwortlich ſie auch
ſcheinen moͤchten, (im Grunde koͤnnten ſie’s doch nur ſcheinen, und nicht ſeyn —) nicht irre
machen laſſen.

Man wende dieſes auf die Phyſiognomik an. Poſitife Beweiſe fuͤr die wahrhafte und
erkennbare Bedeutung menſchlicher Geſichter und Geſichtszuͤge, wider deren Klarheit und Zuver-
laͤſſigkeit nichts eingewendet werden kann, machen unzaͤhlige Einwendungen, die vielleicht nicht
beantwortet werden koͤnnen, voͤllig unbedeutend.

Man ſuche alſo erſt ſich mit dem Poſitifen, das die Phyſiognomik liefert, bekannt zu
machen. — Man halte ſich erſt allein an dem gewiß Wahren feſt, und man wird ſich bald im
Stande befinden, ſehr viele Einwendungen zu beantworten, oder als keiner Beantwortung wuͤr-
dig auf die Seite zu ſchaffen.

Nach dem Maaße, wie der Menſch das Poſitife bemerkt und feſt haͤlt, — nach demſel-
ben laͤßt ſich, wie mich deucht, ſeine Kraft und Staͤndigkeit meſſen. Der mittelmaͤßige, der

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[42/0064] V. Fragment. Etwas uͤber die Einwendungen „erfahren.“ — Wenn zehentauſende das ſagen, was beweiſt’s gegen einen einzigen Verſtaͤndigen und Redlichen, der ſagen kann: „aber ich hab’s wahrgenommen, und ihr koͤnnt’s auch wahrneh- „men, wenn ihr wollt.“ — Gegen das in die Augen leuchtende Daſeyn einer Sache laͤßt ſich keine gegruͤndete Einwen- dung machen. Etwas poſitifes, ein Factum kann durch nichts aufgehoben werden. Es laͤßt ſich kein poſitifes Factum dagegen anfuͤhren ... und alle Einwendungen dagegen ſind nur negativ... Wenn ich z. E. einen auferſtandenen Todten geſehen, mit ihm geredet, mit ihm gegeſſen und getrunken, ihn mehrmals betaſtet haͤtte, kurz, von ſeiner Erſcheinung vollkommen ſo ſinnlich uͤberzeugt waͤre, wie von dem Daſeyn meines noch lebenden Freundes, dem ich dieß Blatt vor- leſe — wie nichts waͤren mir dann alle Einwendungen von der Unzuverlaͤſſigkeit der Sinne? von der Unmoͤglichkeit, daß ein Todter auferſtehe? von unzaͤhligen falſchen Erzaͤhlungen, die man von aͤhnlichen Erſcheinungen gemacht habe? von der allgemeinen Nichterfahrung ganzer Jahrhunderte, ganzer Menſchengeſchlechter in Abſicht auf eine ſolche Erſcheinung? u. ſ. f. — Alles dieß wuͤrde mich zwar billig ſehr behutſam machen in der Unterſuchung der Wuͤrklichkeit der Thatſache — aber wenn ich einmal hievon, vollkommen ſo, wie von der Exiſtenz meines lebenden Freundes, uͤberzeugt waͤre — wuͤrde ich mich durch alle dieſe Einwendungen, ſo unbeantwortlich ſie auch ſcheinen moͤchten, (im Grunde koͤnnten ſie’s doch nur ſcheinen, und nicht ſeyn —) nicht irre machen laſſen. Man wende dieſes auf die Phyſiognomik an. Poſitife Beweiſe fuͤr die wahrhafte und erkennbare Bedeutung menſchlicher Geſichter und Geſichtszuͤge, wider deren Klarheit und Zuver- laͤſſigkeit nichts eingewendet werden kann, machen unzaͤhlige Einwendungen, die vielleicht nicht beantwortet werden koͤnnen, voͤllig unbedeutend. Man ſuche alſo erſt ſich mit dem Poſitifen, das die Phyſiognomik liefert, bekannt zu machen. — Man halte ſich erſt allein an dem gewiß Wahren feſt, und man wird ſich bald im Stande befinden, ſehr viele Einwendungen zu beantworten, oder als keiner Beantwortung wuͤr- dig auf die Seite zu ſchaffen. Nach dem Maaße, wie der Menſch das Poſitife bemerkt und feſt haͤlt, — nach demſel- ben laͤßt ſich, wie mich deucht, ſeine Kraft und Staͤndigkeit meſſen. Der mittelmaͤßige, der ſeichte

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/64>, abgerufen am 24.11.2024.