Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
Religiöse, Schwärmer, Theosophen, Seher.
Fünfte Tafel.
Johannes nach Vandyk. Ein Umriß.

Auch in der bloß erträglichen Copie -- wie viel Geist, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was ist
das? -- O wie gut und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig bey einander wohnen -- wie der köst-
liche Balsam, ausgegossen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab-
fließt bis zum Saume seiner Kleider -- -- Verstehen wir nun, was Salbung ist -- Ein Gesicht
voll Salbung? Ein Gesicht gut und lieblich -- aber noch mehr, als dieß -- Ein Gesicht, das Geist,
Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichsten Salbe alldurchdringender
Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Gesichtes sehen, empfinden die sanfte Macht der An-
ziehung -- aber wer kann sie beschreiben? Wer beschreiben den Wohlgeruch des Salböls ausgegos-
sen aufs Haupt, sanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es ist dem kalten, geist-
und kraftleeren Gesichte, von dem sich alles sagen, der kleinste Zug beschreiben und bestimmen läßt,
entgegen. -- So das Gesicht, das wir vor uns haben, wenigstens zum Theil. --

Zuerst -- das Ganze -- welche ruhige, einfache, denkende Stellung! -- wie würdig eines
Mitgenossen an der Trübsal und an dem Reiche Christus -- der eben den Giftbecher trin-
ken soll -- wie kunstlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zurückbeben! kein
seufzendes Fragen -- "und bessers hab' ich nicht verdienet?" -- Das Staunen der tieffühlenden
Einfalt -- voll großer Gedanken -- wer bemerkt's nicht? -- Jch lobe das Auge nicht ganz. Die
Falten überm obern Augenliede -- die Entfernung der sehr gemein und ohne Gefühl oder Studium
gezeichneten Augenbraunen -- kann ich nicht billigen, geschweige loben. Dennoch hat der Blick
ein unbeschreiblich schickliches Staunen -- "wenn sie etwas tödtliches trinken werden, wird es sie
"nicht schädigen." -- "Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke -- und mit der Taufe, womit
"ich getauft werden soll, getauft werden." -- "So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?" --
"Doch sagte Jesus nicht: Er stirbt nicht, sondern, so ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; --
"was geht's dich an? -- -- Mir scheint's -- diese Gedanken, diese Worte des Meisters, die so viel
mehr in sich fassen, als sie beym ersten Anhören in sich zu fassen scheinen -- beschäfftigen die ganze
edle, ruhige Seele des erhabenen -- warum bloß Mannes, und nicht Greises? --

Die
Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher.
Fuͤnfte Tafel.
Johannes nach Vandyk. Ein Umriß.

Auch in der bloß ertraͤglichen Copie — wie viel Geiſt, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was iſt
das? — O wie gut und lieblich iſt’s, wenn Bruͤder eintraͤchtig bey einander wohnen — wie der koͤſt-
liche Balſam, ausgegoſſen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab-
fließt bis zum Saume ſeiner Kleider — — Verſtehen wir nun, was Salbung iſt — Ein Geſicht
voll Salbung? Ein Geſicht gut und lieblich — aber noch mehr, als dieß — Ein Geſicht, das Geiſt,
Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichſten Salbe alldurchdringender
Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Geſichtes ſehen, empfinden die ſanfte Macht der An-
ziehung — aber wer kann ſie beſchreiben? Wer beſchreiben den Wohlgeruch des Salboͤls ausgegoſ-
ſen aufs Haupt, ſanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es iſt dem kalten, geiſt-
und kraftleeren Geſichte, von dem ſich alles ſagen, der kleinſte Zug beſchreiben und beſtimmen laͤßt,
entgegen. — So das Geſicht, das wir vor uns haben, wenigſtens zum Theil. —

Zuerſt — das Ganze — welche ruhige, einfache, denkende Stellung! — wie wuͤrdig eines
Mitgenoſſen an der Truͤbſal und an dem Reiche Chriſtus — der eben den Giftbecher trin-
ken ſoll — wie kunſtlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zuruͤckbeben! kein
ſeufzendes Fragen — „und beſſers hab’ ich nicht verdienet?“ — Das Staunen der tieffuͤhlenden
Einfalt — voll großer Gedanken — wer bemerkt’s nicht? — Jch lobe das Auge nicht ganz. Die
Falten uͤberm obern Augenliede — die Entfernung der ſehr gemein und ohne Gefuͤhl oder Studium
gezeichneten Augenbraunen — kann ich nicht billigen, geſchweige loben. Dennoch hat der Blick
ein unbeſchreiblich ſchickliches Staunen — „wenn ſie etwas toͤdtliches trinken werden, wird es ſie
„nicht ſchaͤdigen.“ — „Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke — und mit der Taufe, womit
„ich getauft werden ſoll, getauft werden.“ — „So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?“ —
„Doch ſagte Jeſus nicht: Er ſtirbt nicht, ſondern, ſo ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; —
„was geht’s dich an? — — Mir ſcheint’s — dieſe Gedanken, dieſe Worte des Meiſters, die ſo viel
mehr in ſich faſſen, als ſie beym erſten Anhoͤren in ſich zu faſſen ſcheinen — beſchaͤfftigen die ganze
edle, ruhige Seele des erhabenen — warum bloß Mannes, und nicht Greiſes? —

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0515" n="287"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Religio&#x0364;&#x017F;e, Schwa&#x0364;rmer, Theo&#x017F;ophen, Seher.</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Fu&#x0364;nfte Tafel.<lb/>
Johannes nach Vandyk. Ein Umriß.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">A</hi>uch in der bloß ertra&#x0364;glichen Copie &#x2014; wie viel Gei&#x017F;t, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was i&#x017F;t<lb/>
das? &#x2014; O wie gut und lieblich i&#x017F;t&#x2019;s, wenn Bru&#x0364;der eintra&#x0364;chtig bey einander wohnen &#x2014; wie der ko&#x0364;&#x017F;t-<lb/>
liche Bal&#x017F;am, ausgego&#x017F;&#x017F;en aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab-<lb/>
fließt bis zum Saume &#x017F;einer Kleider &#x2014; &#x2014; Ver&#x017F;tehen wir nun, was Salbung i&#x017F;t &#x2014; Ein Ge&#x017F;icht<lb/>
voll Salbung? Ein Ge&#x017F;icht gut und lieblich &#x2014; aber noch mehr, als dieß &#x2014; Ein Ge&#x017F;icht, das Gei&#x017F;t,<lb/>
Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblich&#x017F;ten Salbe alldurchdringender<lb/>
Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Ge&#x017F;ichtes &#x017F;ehen, empfinden die &#x017F;anfte Macht der An-<lb/>
ziehung &#x2014; aber wer kann &#x017F;ie be&#x017F;chreiben? Wer be&#x017F;chreiben den Wohlgeruch des Salbo&#x0364;ls ausgego&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en aufs Haupt, &#x017F;anft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es i&#x017F;t dem kalten, gei&#x017F;t-<lb/>
und kraftleeren Ge&#x017F;ichte, von dem &#x017F;ich alles &#x017F;agen, der klein&#x017F;te Zug be&#x017F;chreiben und be&#x017F;timmen la&#x0364;ßt,<lb/>
entgegen. &#x2014; So das Ge&#x017F;icht, das wir vor uns haben, wenig&#x017F;tens zum Theil. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Zuer&#x017F;t &#x2014; das Ganze &#x2014; welche ruhige, einfache, denkende Stellung! &#x2014; wie wu&#x0364;rdig eines<lb/><hi rendition="#fr">Mitgeno&#x017F;&#x017F;en an der Tru&#x0364;b&#x017F;al und an dem Reiche Chri&#x017F;tus</hi> &#x2014; der eben den Giftbecher trin-<lb/>
ken &#x017F;oll &#x2014; wie kun&#x017F;tlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zuru&#x0364;ckbeben! kein<lb/>
&#x017F;eufzendes Fragen &#x2014; &#x201E;und be&#x017F;&#x017F;ers hab&#x2019; ich nicht verdienet?&#x201C; &#x2014; Das Staunen der tieffu&#x0364;hlenden<lb/>
Einfalt &#x2014; voll großer Gedanken &#x2014; wer bemerkt&#x2019;s nicht? &#x2014; Jch lobe das Auge nicht ganz. Die<lb/>
Falten u&#x0364;berm obern Augenliede &#x2014; die Entfernung der &#x017F;ehr gemein und ohne Gefu&#x0364;hl oder Studium<lb/>
gezeichneten Augenbraunen &#x2014; kann ich nicht billigen, ge&#x017F;chweige loben. Dennoch hat der Blick<lb/>
ein unbe&#x017F;chreiblich &#x017F;chickliches Staunen &#x2014; &#x201E;wenn &#x017F;ie etwas to&#x0364;dtliches trinken werden, wird es &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;nicht &#x017F;cha&#x0364;digen.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke &#x2014; und mit der Taufe, womit<lb/>
&#x201E;ich getauft werden &#x017F;oll, getauft werden.&#x201C; &#x2014; &#x201E;So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?&#x201C; &#x2014;<lb/>
&#x201E;Doch &#x017F;agte Je&#x017F;us nicht: Er &#x017F;tirbt nicht, &#x017F;ondern, &#x017F;o ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; &#x2014;<lb/>
&#x201E;was geht&#x2019;s dich an? &#x2014; &#x2014; Mir &#x017F;cheint&#x2019;s &#x2014; die&#x017F;e Gedanken, die&#x017F;e Worte des Mei&#x017F;ters, die &#x017F;o viel<lb/>
mehr in &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;en, als &#x017F;ie beym er&#x017F;ten Anho&#x0364;ren in &#x017F;ich zu fa&#x017F;&#x017F;en &#x017F;cheinen &#x2014; be&#x017F;cha&#x0364;fftigen die ganze<lb/>
edle, ruhige Seele des erhabenen &#x2014; warum bloß Mannes, und nicht Grei&#x017F;es? &#x2014;</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0515] Religioͤſe, Schwaͤrmer, Theoſophen, Seher. Fuͤnfte Tafel. Johannes nach Vandyk. Ein Umriß. Auch in der bloß ertraͤglichen Copie — wie viel Geiſt, Jnnigkeit, Salbung? Salbung? was iſt das? — O wie gut und lieblich iſt’s, wenn Bruͤder eintraͤchtig bey einander wohnen — wie der koͤſt- liche Balſam, ausgegoſſen aufs Haupt, herabfließt in den Bart, ja in den Bart Aarons, herab- fließt bis zum Saume ſeiner Kleider — — Verſtehen wir nun, was Salbung iſt — Ein Geſicht voll Salbung? Ein Geſicht gut und lieblich — aber noch mehr, als dieß — Ein Geſicht, das Geiſt, Kraft, Leben, Erquickung ausduftet, das anzieht, wie der lieblichſten Salbe alldurchdringender Wohlgeruch! Man kann die Lieblichkeit des Geſichtes ſehen, empfinden die ſanfte Macht der An- ziehung — aber wer kann ſie beſchreiben? Wer beſchreiben den Wohlgeruch des Salboͤls ausgegoſ- ſen aufs Haupt, ſanft herabtriefend bis zum Saume des Kleides Aarons? Es iſt dem kalten, geiſt- und kraftleeren Geſichte, von dem ſich alles ſagen, der kleinſte Zug beſchreiben und beſtimmen laͤßt, entgegen. — So das Geſicht, das wir vor uns haben, wenigſtens zum Theil. — Zuerſt — das Ganze — welche ruhige, einfache, denkende Stellung! — wie wuͤrdig eines Mitgenoſſen an der Truͤbſal und an dem Reiche Chriſtus — der eben den Giftbecher trin- ken ſoll — wie kunſtlos! wie wahr, und wie erhaben! keine Befremdung! kein Zuruͤckbeben! kein ſeufzendes Fragen — „und beſſers hab’ ich nicht verdienet?“ — Das Staunen der tieffuͤhlenden Einfalt — voll großer Gedanken — wer bemerkt’s nicht? — Jch lobe das Auge nicht ganz. Die Falten uͤberm obern Augenliede — die Entfernung der ſehr gemein und ohne Gefuͤhl oder Studium gezeichneten Augenbraunen — kann ich nicht billigen, geſchweige loben. Dennoch hat der Blick ein unbeſchreiblich ſchickliches Staunen — „wenn ſie etwas toͤdtliches trinken werden, wird es ſie „nicht ſchaͤdigen.“ — „Jhr werdet den Kelch trinken, den ich trinke — und mit der Taufe, womit „ich getauft werden ſoll, getauft werden.“ — „So ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme?“ — „Doch ſagte Jeſus nicht: Er ſtirbt nicht, ſondern, ſo ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme; — „was geht’s dich an? — — Mir ſcheint’s — dieſe Gedanken, dieſe Worte des Meiſters, die ſo viel mehr in ſich faſſen, als ſie beym erſten Anhoͤren in ſich zu faſſen ſcheinen — beſchaͤfftigen die ganze edle, ruhige Seele des erhabenen — warum bloß Mannes, und nicht Greiſes? — Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/515
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/515>, abgerufen am 25.11.2024.